Die Weisheit des Knödels
Grubenhunde, Erdbeben, erschütternde Stöße. – In der Vorwoche war an dieser Stelle von einem gefälschten Leserbrief die Rede, der um diese Begriffe kreiste und dessen Veröffentlichung 1911 beträchtliche Aufregung bei den Wienern im Allgemeinen und bei Karl Kraus im Besonderen auslöste. – Das muss eine glückliche Zeit gewesen sein, in der man keine anderen Sorgen hatte!
Auch der Architekt Adolf Loos, ein Zeitgenosse von Karl Kraus, sorgte mit einer aus heutiger Sicht lappalienverdächtigen Feststellung für größtes Aufsehen. Er sagte nämlich, die Wiener Küche sei die ekelhafteste der Welt.
Und er fuhr fort: Die Wiener sollten sich gefälligst ein Beispiel an der französischen und der angelsächsischen Küche nehmen. Besonders schlimm seien die Marillen- und Zwetschkenknödel, die der Wiener fast tagtäglich in sich hineinmampfe. Überhaupt esse der Wiener Mehlspeisen, bis er platze, weswegen er so schwerfälligen und plumpen Geistes sei, der Wiener. So weit der geborene Brünner Adolf Loos.
Na bumm, mehr brauchte er nicht. Dass er sie selbst beschimpfte, ließen ihm die Wiener noch durchgehen. Aber bei den Marillen- und Zwetschkenknödeln, da kannten sie keinen Spaß.
In den Wiener Zeitungen erschienen Ehrenrettungen des Knödels. Die Innung der Köche meldete sich empört zu Wort. Und die Wiener Werkstätten, die Loos in seinem Kampf gegen das Ornament zum Lieblingsgegner erkoren hatte, stellten öffentlich fest: Wenn ihre – also der Wiener Werkstätten – Kunsterzeugnisse nur halb so gut seien wie die Wiener Zwetschkenknödel, könne man schon sehr zufrieden sein.
Loos gab jedoch nicht nach, sondern verbreitete seine Anwürfe gegen die Wiener Küche weiterhin in öffentlichen Vorträgen (einen davon hielt er sogar in Paris), wobei er nicht nur die Mehlspeisen, sondern auch die Vorliebe der Wiener für Paniertes geißelte.
Böse Zungen behaupteten, nach einem dieser Vorträge sei er im Beisl beim Genuss eines Wiener Schnitzels und zweier Stück Apfelstrudel gesehen worden. Doch das waren sicher nur böswillige Unterstellungen, die zeigen, wie sehr Loos, weil er die Wiener zur ausländischen Küche bekehren wollte, in der Stadt unten durch war.
Wie das wohl heute wäre? Als die Wiener Verkehrsbetriebe es neulich untersagten, in einer bestimmten U-BahnLinie (warum nur in der?) Leberkässemmeln, Kebab und andere odiose Speisen zu verzehren, regte sich niemand über das Leberkässemmel-Verbot auf, während die Plakate, auf denen das KebabVerbot ausgesprochen wurde, als rassistisch kritisiert wurden.
Das zeigt, dass die heutigen Wiener enorm aufgeschlossen für die internationale Küche (Küche?) sind. Jetzt hätte Adolf Loos vielleicht gewisse Chancen, ein Marillen- und Zwetschkenknödelverbot durchzusetzen.
Was aber unklug wäre. Warum, das ist ausgerechnet in einem Buch von Nikolaus Harnoncourt nachzulesen. Darin beantwortet der unvergessene Dirigent die Frage, warum sein „Concentus Musicus“keine modernen, sondern alte Instrumente verwendet: Jedes gelöste Problem habe seinen Preis, schreibt Harnoncourt. Man könne alte Instrumente verbessern, verliere dabei aber immer etwas. Jeder Fortschritt in der Technik werde durch einen Rückschritt etwa in der Klangfarbe erkauft.
Und Harnoncourt kommt zu dem Schluss: „Es stimmt wohl meine schon als Kind gefundene Knödeltheorie. Wir bekommen einen Knödel, und wenn wir an einer Stelle etwas vergrößern oder verbessern wollen, müssen wir es woanders wegnehmen – der Knödel kann nicht vergrößert werden.“
Was uns eindrucksvoll beweist: Im Knödel liegt die Weisheit.