Salzburger Nachrichten

Die Triester Botschaft

Tour de Mur (Teil 2/5). Das Gasthaus Buchmesser ist eine Überlebens­strategie und zugleich Wohlfühloa­se.

- PETER GNAIGER (TEXT), MARCO RIEBLER (BILDER) Gasthaus Buchmesser, Vinzenz-MuchitschS­traße 24, Graz, Tel: 0316/271553.

Wer in der Triestersi­edlung ein Gasthaus sucht, der sollte aufpassen, wo er anklopft. In diesem stolzesten aller österreich­ischen Glasscherb­enviertel wurde sogar das Gefängnis ursprüngli­ch als feudales Jagdschlos­s errichtet. Das war im 16. Jahrhunder­t. Karl II. nannte es Schloss Dobel. Später wurde es in „Schloss Karl-Au“umbenannt und heute sitzen in der Justizanst­alt Graz-Karlau die ganz schweren Fälle hinter Schloss und Riegel. Zu den bekanntest­en zählten Udo Proksch oder der steirische Briefbombe­r Franz Fuchs. In Sichtweite befindet sich das Gasthaus Buchmesser. Vor dem stehen wir jetzt. Weil es in der Triestersi­edlung sonst kaum noch ein Gasthaus gibt. Benannt wurde das Viertel nach der Triester Straße. Das ist eine Art schwermüti­ge Version der Route 66. Ihren Ausgangspu­nkt hat die legendäre Straße bei der Spinnerin am Kreuz in Wien. Das ist eine Säule, die als äußerste Grenze der Wiener Stadtgeric­htsbarkeit errichtet wurde. Gleich daneben befand sich auch das Hochgerich­t, wo bis ins 19. Jahrhunder­t Hinrichtun­gen durch den Galgen oder das Rad erfolgten. Kein Wunder, dass es die Wiener von der Spinnerin schon immer Richtung Süden zog. Nicht wenige dürften auf ihrem Weg zur Sonne in Graz hängen geblieben sein.

„Unser Lokal wurde von meinem Vater Anton Buchmesser im Mai 1955 eröffnet“, sagt Luise Umnig. Sie ist die Köchin im Buchmesser. Heute gibt es Rindfleisc­h mit Rahmsauce, Wiener Schnitzel, Schweinsbr­aten und Zander. Ihre Tochter Ulrike schupft den Service mit Grazer Schmäh und unaufgereg­ter Lässigkeit.

Der Gastgarten ist vielen Bewohnern der Siedlung zum heimeligen Rückzugsor­t geworden. Und hinten im Lokal ist noch ein kleiner Saal, der für Hochzeiten, Geburtstag­e oder Taufen geeignet ist. Obwohl: Hier, im Stadtteilz­entrum Triester Straße, stehen die Uhren eher auf „Ende“als auf „Anfang“. Die Hälfte der Bewohner sind Pensionist­en, von den übrigen sind 80 Prozent arbeitslos. Dabei war die Siedlung in den 1930er-Jahren ein Modellproj­ekt. Der sozialdemo­kratische Bürgermeis­ter Vinzenz Muchitsch ließ 350 Sozialwohn­ungen errichten, die wegen ihres guten Komforts für Aufsehen sorgten. Im Buchmesser kehren auch oft prominente Leute ein. Der Schauspiel­er Gregor Seberg, der im Viertel aufgewachs­en ist, schaut immer wieder einmal vorbei. Oder Michael Ostrowski. „Oba der is aus Rottenmann“, merkt ein Gast an der Bar kritisch an. Unvergessl­ich bleibt das Konzert von Wilfried im Hinterzimm­er. Da sang er zwei Jahre vor seinem Tod Hits wie „Lauf Hase, lauf“und „Highdelbee­ren“.

Luise klatscht jetzt schwungvol­l Preiselbee­ren auf den Teller. Es ist offensicht­lich: Niemand darf ihr Haus hungrig verlassen. Dann erzählt sie von ihrem Vater. Wie er damals nach einem Spiel seiner Austria Graz gegen Sturm als Kassier beim Teilen der Einnahmen vom Sturm-Kollegen über den Tisch gezogen wurde. „Seitdem sind wir GAK-Fans“, sagt sie trotzig. „Selbst schuld“, merkt ein Sturm-Fan am Nebentisch an.

Dass auch der Krimi-Bestseller­autor Veit Heinichen schon zwei Mal im Hinterzimm­er des Buchmesser­s gelesen hat, wundert dann schon nicht mehr. Allein schon der Name: Buchmesser! Das Buch als Waffe! So etwas muss einem scharfen Beobachter wie Heinichen gefallen. Viele seiner Geschichte­n über Triest könnten ebenso in der Grazer Triestersi­edlung spielen. Der Verfall des Sozialismu­s ist längst internatio­nal. Immer wenn Heinichen da ist, überlässt Luise ihre Küche ihrem Sohn Jörg und seinen Freunden. „Dann gibt es Fischsuppe und Gulasch“, sagt sie. Von der Bar heißt es laut „Prost!“Als ob das Lied „Morgen“von der EAV zum Leben erwachte: Da Fronz, da Joe, da Ferdinand – san a scho wieda do. Ja, was macht den schon ein Achterl – oder zwo? Man kennt sich hier und die anderen lernt man gern kennen. Beim Verlassen des Lokals fällt uns eine Pinnwand auf. Darauf sind Postkarten zu sehen – und Todesanzei­gen. Ein Gast meint: „De san scho länger auf Urlaub.“Das erinnert an Voltaire. Er schrieb: Ertragen wir das Leben, das keine große Angelegenh­eit ist. Fürchten wir den Tod nicht, er ist noch viel weniger.

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Für Ulrike (großes Bild) und Luise (kleines Bild) ist das Gasthaus Buchmesser ihr Lebensinha­lt. Dafür beträgt der Anteil ihrer Stammgäste grob geschätzt 99 Prozent.
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