Die Triester Botschaft
Tour de Mur (Teil 2/5). Das Gasthaus Buchmesser ist eine Überlebensstrategie und zugleich Wohlfühloase.
Wer in der Triestersiedlung ein Gasthaus sucht, der sollte aufpassen, wo er anklopft. In diesem stolzesten aller österreichischen Glasscherbenviertel wurde sogar das Gefängnis ursprünglich als feudales Jagdschloss errichtet. Das war im 16. Jahrhundert. Karl II. nannte es Schloss Dobel. Später wurde es in „Schloss Karl-Au“umbenannt und heute sitzen in der Justizanstalt Graz-Karlau die ganz schweren Fälle hinter Schloss und Riegel. Zu den bekanntesten zählten Udo Proksch oder der steirische Briefbomber Franz Fuchs. In Sichtweite befindet sich das Gasthaus Buchmesser. Vor dem stehen wir jetzt. Weil es in der Triestersiedlung sonst kaum noch ein Gasthaus gibt. Benannt wurde das Viertel nach der Triester Straße. Das ist eine Art schwermütige Version der Route 66. Ihren Ausgangspunkt hat die legendäre Straße bei der Spinnerin am Kreuz in Wien. Das ist eine Säule, die als äußerste Grenze der Wiener Stadtgerichtsbarkeit errichtet wurde. Gleich daneben befand sich auch das Hochgericht, wo bis ins 19. Jahrhundert Hinrichtungen durch den Galgen oder das Rad erfolgten. Kein Wunder, dass es die Wiener von der Spinnerin schon immer Richtung Süden zog. Nicht wenige dürften auf ihrem Weg zur Sonne in Graz hängen geblieben sein.
„Unser Lokal wurde von meinem Vater Anton Buchmesser im Mai 1955 eröffnet“, sagt Luise Umnig. Sie ist die Köchin im Buchmesser. Heute gibt es Rindfleisch mit Rahmsauce, Wiener Schnitzel, Schweinsbraten und Zander. Ihre Tochter Ulrike schupft den Service mit Grazer Schmäh und unaufgeregter Lässigkeit.
Der Gastgarten ist vielen Bewohnern der Siedlung zum heimeligen Rückzugsort geworden. Und hinten im Lokal ist noch ein kleiner Saal, der für Hochzeiten, Geburtstage oder Taufen geeignet ist. Obwohl: Hier, im Stadtteilzentrum Triester Straße, stehen die Uhren eher auf „Ende“als auf „Anfang“. Die Hälfte der Bewohner sind Pensionisten, von den übrigen sind 80 Prozent arbeitslos. Dabei war die Siedlung in den 1930er-Jahren ein Modellprojekt. Der sozialdemokratische Bürgermeister Vinzenz Muchitsch ließ 350 Sozialwohnungen errichten, die wegen ihres guten Komforts für Aufsehen sorgten. Im Buchmesser kehren auch oft prominente Leute ein. Der Schauspieler Gregor Seberg, der im Viertel aufgewachsen ist, schaut immer wieder einmal vorbei. Oder Michael Ostrowski. „Oba der is aus Rottenmann“, merkt ein Gast an der Bar kritisch an. Unvergesslich bleibt das Konzert von Wilfried im Hinterzimmer. Da sang er zwei Jahre vor seinem Tod Hits wie „Lauf Hase, lauf“und „Highdelbeeren“.
Luise klatscht jetzt schwungvoll Preiselbeeren auf den Teller. Es ist offensichtlich: Niemand darf ihr Haus hungrig verlassen. Dann erzählt sie von ihrem Vater. Wie er damals nach einem Spiel seiner Austria Graz gegen Sturm als Kassier beim Teilen der Einnahmen vom Sturm-Kollegen über den Tisch gezogen wurde. „Seitdem sind wir GAK-Fans“, sagt sie trotzig. „Selbst schuld“, merkt ein Sturm-Fan am Nebentisch an.
Dass auch der Krimi-Bestsellerautor Veit Heinichen schon zwei Mal im Hinterzimmer des Buchmessers gelesen hat, wundert dann schon nicht mehr. Allein schon der Name: Buchmesser! Das Buch als Waffe! So etwas muss einem scharfen Beobachter wie Heinichen gefallen. Viele seiner Geschichten über Triest könnten ebenso in der Grazer Triestersiedlung spielen. Der Verfall des Sozialismus ist längst international. Immer wenn Heinichen da ist, überlässt Luise ihre Küche ihrem Sohn Jörg und seinen Freunden. „Dann gibt es Fischsuppe und Gulasch“, sagt sie. Von der Bar heißt es laut „Prost!“Als ob das Lied „Morgen“von der EAV zum Leben erwachte: Da Fronz, da Joe, da Ferdinand – san a scho wieda do. Ja, was macht den schon ein Achterl – oder zwo? Man kennt sich hier und die anderen lernt man gern kennen. Beim Verlassen des Lokals fällt uns eine Pinnwand auf. Darauf sind Postkarten zu sehen – und Todesanzeigen. Ein Gast meint: „De san scho länger auf Urlaub.“Das erinnert an Voltaire. Er schrieb: Ertragen wir das Leben, das keine große Angelegenheit ist. Fürchten wir den Tod nicht, er ist noch viel weniger.