Ein schlechter europäischer Export
Beim EU-Gipfel wird auch über Asylzentren in Drittstaaten diskutiert. Aber das Konzept funktioniert nicht einmal in der EU.
Beim EU-Gipfel im Juni haben sich die Staats- und Regierungschefs für Anlandezentren für Flüchtlinge in Nicht-EU-Ländern ausgesprochen. Beim Gipfel in Salzburg wird das Thema wieder aufkommen. Das Konzept gleicht jenem der Hotspots in der EU. Aber diese funktionieren nicht, warnt Apostolos Veizis, der als Leiter von Ärzte ohne Grenzen Griechenland in den Zentren auf den griechischen Inseln im Einsatz ist. Dort kommen vor allem Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan an. In den vergangenen Tagen waren 50 Prozent Kinder, berichtet Veizis.
Wie ist die Lage in den griechischen Hotspots?
Apostolos Veizis: Ärzte ohne Grenzen arbeitet mit Menschen in über 70 Ländern der Welt. Die Patienten, die wir in Afghanistan, im Irak, in Syrien oder im Kongo sehen, sind dieselben, die wir heute in Europa sehen. Der Unterschied ist, wenn wir in diese Länder gehen, antworten wir dort auf einen Konflikt. Was wir heute in Europa sehen, ist ein Leid jenseits jeglicher Vorstellung. Die Hotspots wurden als offene Gefängnisse gegründet. Die Umgebung, in der diese Kinder, Frauen und Männer heute in Europa leben, ist inakzeptabel. Sie ist schlimmer als in den Konfliktregionen.
Ein Argument für die Hotspots war, dort schnelle, geordnete Asylverfahren durchzuführen.
Dieser theoretische Ansatz und die Realität von September 2018 sind zwei unterschiedliche Dinge. Ich gebe ein Beispiel: Heute leben im Hotspot auf Lesbos, der für 2200 Menschen angelegt ist, mehr als 9000 Menschen. 3500 davon sind Kinder, die heute draußen schlafen, ohne irgendeinen Schutz. Heute leben diese Leute für Monate und Jahre in einer Situation, wo du drei Stunden für eine Mahlzeit anstehen musst. Es gibt eine Toilette für 75 Menschen. Frauen gehen in der Nacht gar nicht auf die Toilette, weil sie Angst haben, vergewaltigt zu werden. Wir sehen Menschen, die zu dritt auf einem Quadratmeter leben. Normalerweise, wenn man auf die Richtlinien von UNHCR und der EU schaut, sollte jede Person 3,5 Quadratmeter zur Verfügung haben. Das wirkt sich auf die Gesund- heit aus. Die Überfüllung der Lager führt außerdem zu Spannungen und Gewalt. Dazu kommt die Unsicherheit über die Zukunft. Die Leute warten beispielsweise vier Monate, bis festgestellt wird, ob sie zu den Schutzbedürftigsten zählen. Es gibt derzeit Menschen, deren erster Termin für ein Interview zum Asylverfahren im November 2019 ist.
Was ist aus medizinischer Sicht das größte Problem?
Eines der größten Probleme sind psychische Erkrankungen, darunter Depressionen. Viele Menschen versuchen sich umzubringen, auch viele Kinder. Das ist die Realität, der die Menschen täglich ins Auge sehen. Die Hotspots brachten Leid und Tod. Im vergangenen Jahr sind im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos fünf Menschen erfroren. Ein Vater aus Aleppo sagte zu mir: Ich habe es geschafft, meine Familie vor den Bomben zu schützen. Aber ich schaffe es nicht, meine Familie in Europa zu schützen.
Wie viele Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen arbeiten derzeit in Griechenland?
Wir mussten die Zahl verdoppeln, heute sind es hundert Mitarbeiter. Für die meisten von ihnen ist es die schlimmste Erfahrung, die sie bisher machen mussten. Weil das alles auf einem der reichsten Kontinente der Welt stattfindet. Weil das Geld grundsätzlich verfügbar wäre, aber Geld und Ressourcen einfach nicht zur Verfügung gestellt werden. Man kann das schlechtes Management der griechischen Behörden nennen, aber insgesamt ist es eine geplante, absichtliche Politik der EU.
Bekommen die Griechen zu wenig Unterstützung?
Es ist ein Mangel an politischem Willen, von Griechenland und Europa. Menschen in miserablen Bedingungen leben zu lassen hält sie nicht davon ab, nach Europa zu kommen. Wenn man einen Krieg hinter sich hat, ist das stärker als das, was einen im Flüchtlingslager erwartet. Die Menschen kommen nicht wegen einer Decke oder einer Toilette. Sie kommen, um ihr Leben zu retten.
Wissen sie, was sie erwartet?
Ja, sie wissen das. Aber sie kommen, um ihr Leben zu retten. Ich habe dann aber viele Leute sagen hören: Wir gingen besser zurück, um in Würde zu sterben, als hier zu bleiben und jeden Tag zu sterben. Und all das passiert im Namen der europäischen Bürger. Denn es passiert ja mit europäischem Steuergeld. Es ist nicht nur die Verantwortung der Politiker, sondern auch die der Bürger. Denn sie wählen diese Politiker. Zumindest kann man verantwortungsbewusst genug sein, um sich gegenseitig zu fragen: Akzeptierst du diese Situation? Fühlst du dich wohl dabei, wenn Frauen und Kinder in Flüchtlingslagern vergewaltigt werden? Was die EU-Politiker hier in Drittstaaten exportieren wollen, ist Leid. Ich denke, wir müssen diesen Export von Leid stoppen.
SN: Wenn wir das Konzept der Hotspots in Drittländer exportieren, würde das die Situation noch verschlimmern?
Ja, es würde für die Menschen schlimmer werden. Es hat sich erwiesen, dass die Hotspots nicht die Lösung sind. Wie kann man so etwas exportieren? Wenn es in Europa nicht funktioniert, warum sollte es in anderen Ländern funktionieren? Ein Hotspot, der Leid und Tod bringt, der die Zerstörung der Menschenwürde und Trauma bringt, der Selbstmorde bringt – das ist etwas, das wir nicht in andere Länder exportieren dürfen. Apostolos Veizis hat für Ärzte ohne Grenzen unter anderem in Südostasien und im Kongo gearbeitet. Diese Woche war er auf Einladung der Menschenrechtsorganisation Südwind zu Gast in Wien.