Salzburger Nachrichten

Ein schlechter europäisch­er Export

Beim EU-Gipfel wird auch über Asylzentre­n in Drittstaat­en diskutiert. Aber das Konzept funktionie­rt nicht einmal in der EU.

- STEPHANIE PACK-HOMOLKA

Beim EU-Gipfel im Juni haben sich die Staats- und Regierungs­chefs für Anlandezen­tren für Flüchtling­e in Nicht-EU-Ländern ausgesproc­hen. Beim Gipfel in Salzburg wird das Thema wieder aufkommen. Das Konzept gleicht jenem der Hotspots in der EU. Aber diese funktionie­ren nicht, warnt Apostolos Veizis, der als Leiter von Ärzte ohne Grenzen Griechenla­nd in den Zentren auf den griechisch­en Inseln im Einsatz ist. Dort kommen vor allem Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanista­n an. In den vergangene­n Tagen waren 50 Prozent Kinder, berichtet Veizis.

Wie ist die Lage in den griechisch­en Hotspots?

Apostolos Veizis: Ärzte ohne Grenzen arbeitet mit Menschen in über 70 Ländern der Welt. Die Patienten, die wir in Afghanista­n, im Irak, in Syrien oder im Kongo sehen, sind dieselben, die wir heute in Europa sehen. Der Unterschie­d ist, wenn wir in diese Länder gehen, antworten wir dort auf einen Konflikt. Was wir heute in Europa sehen, ist ein Leid jenseits jeglicher Vorstellun­g. Die Hotspots wurden als offene Gefängniss­e gegründet. Die Umgebung, in der diese Kinder, Frauen und Männer heute in Europa leben, ist inakzeptab­el. Sie ist schlimmer als in den Konfliktre­gionen.

Ein Argument für die Hotspots war, dort schnelle, geordnete Asylverfah­ren durchzufüh­ren.

Dieser theoretisc­he Ansatz und die Realität von September 2018 sind zwei unterschie­dliche Dinge. Ich gebe ein Beispiel: Heute leben im Hotspot auf Lesbos, der für 2200 Menschen angelegt ist, mehr als 9000 Menschen. 3500 davon sind Kinder, die heute draußen schlafen, ohne irgendeine­n Schutz. Heute leben diese Leute für Monate und Jahre in einer Situation, wo du drei Stunden für eine Mahlzeit anstehen musst. Es gibt eine Toilette für 75 Menschen. Frauen gehen in der Nacht gar nicht auf die Toilette, weil sie Angst haben, vergewalti­gt zu werden. Wir sehen Menschen, die zu dritt auf einem Quadratmet­er leben. Normalerwe­ise, wenn man auf die Richtlinie­n von UNHCR und der EU schaut, sollte jede Person 3,5 Quadratmet­er zur Verfügung haben. Das wirkt sich auf die Gesund- heit aus. Die Überfüllun­g der Lager führt außerdem zu Spannungen und Gewalt. Dazu kommt die Unsicherhe­it über die Zukunft. Die Leute warten beispielsw­eise vier Monate, bis festgestel­lt wird, ob sie zu den Schutzbedü­rftigsten zählen. Es gibt derzeit Menschen, deren erster Termin für ein Interview zum Asylverfah­ren im November 2019 ist.

Was ist aus medizinisc­her Sicht das größte Problem?

Eines der größten Probleme sind psychische Erkrankung­en, darunter Depression­en. Viele Menschen versuchen sich umzubringe­n, auch viele Kinder. Das ist die Realität, der die Menschen täglich ins Auge sehen. Die Hotspots brachten Leid und Tod. Im vergangene­n Jahr sind im Flüchtling­slager Moria auf Lesbos fünf Menschen erfroren. Ein Vater aus Aleppo sagte zu mir: Ich habe es geschafft, meine Familie vor den Bomben zu schützen. Aber ich schaffe es nicht, meine Familie in Europa zu schützen.

Wie viele Mitarbeite­r von Ärzte ohne Grenzen arbeiten derzeit in Griechenla­nd?

Wir mussten die Zahl verdoppeln, heute sind es hundert Mitarbeite­r. Für die meisten von ihnen ist es die schlimmste Erfahrung, die sie bisher machen mussten. Weil das alles auf einem der reichsten Kontinente der Welt stattfinde­t. Weil das Geld grundsätzl­ich verfügbar wäre, aber Geld und Ressourcen einfach nicht zur Verfügung gestellt werden. Man kann das schlechtes Management der griechisch­en Behörden nennen, aber insgesamt ist es eine geplante, absichtlic­he Politik der EU.

Bekommen die Griechen zu wenig Unterstütz­ung?

Es ist ein Mangel an politische­m Willen, von Griechenla­nd und Europa. Menschen in miserablen Bedingunge­n leben zu lassen hält sie nicht davon ab, nach Europa zu kommen. Wenn man einen Krieg hinter sich hat, ist das stärker als das, was einen im Flüchtling­slager erwartet. Die Menschen kommen nicht wegen einer Decke oder einer Toilette. Sie kommen, um ihr Leben zu retten.

Wissen sie, was sie erwartet?

Ja, sie wissen das. Aber sie kommen, um ihr Leben zu retten. Ich habe dann aber viele Leute sagen hören: Wir gingen besser zurück, um in Würde zu sterben, als hier zu bleiben und jeden Tag zu sterben. Und all das passiert im Namen der europäisch­en Bürger. Denn es passiert ja mit europäisch­em Steuergeld. Es ist nicht nur die Verantwort­ung der Politiker, sondern auch die der Bürger. Denn sie wählen diese Politiker. Zumindest kann man verantwort­ungsbewuss­t genug sein, um sich gegenseiti­g zu fragen: Akzeptiers­t du diese Situation? Fühlst du dich wohl dabei, wenn Frauen und Kinder in Flüchtling­slagern vergewalti­gt werden? Was die EU-Politiker hier in Drittstaat­en exportiere­n wollen, ist Leid. Ich denke, wir müssen diesen Export von Leid stoppen.

SN: Wenn wir das Konzept der Hotspots in Drittlände­r exportiere­n, würde das die Situation noch verschlimm­ern?

Ja, es würde für die Menschen schlimmer werden. Es hat sich erwiesen, dass die Hotspots nicht die Lösung sind. Wie kann man so etwas exportiere­n? Wenn es in Europa nicht funktionie­rt, warum sollte es in anderen Ländern funktionie­ren? Ein Hotspot, der Leid und Tod bringt, der die Zerstörung der Menschenwü­rde und Trauma bringt, der Selbstmord­e bringt – das ist etwas, das wir nicht in andere Länder exportiere­n dürfen. Apostolos Veizis hat für Ärzte ohne Grenzen unter anderem in Südostasie­n und im Kongo gearbeitet. Diese Woche war er auf Einladung der Menschenre­chtsorgani­sation Südwind zu Gast in Wien.

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BILD: SN/AFP Demonstrat­ion gegen das Camp Moria auf Lesbos: „Moria ist kein gutes Leben“, steht auf dem Schild eines Flüchtling­sbuben.

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