Den Märkten nicht blind vertrauen
Zehn Jahre Lehman-Pleite. An der engen Verbindung zwischen Bankensystem und Immobilienmärkten habe sich wenig geändert, dort schlummere immer noch ein Risiko, warnt der deutsche Ökonom Moritz Schularick.
Für das weltweite Finanzsystem war der Zusammenbruch von Lehman Brothers ein Schock. Es folgte die größte Finanzkrise seit 1929. Warum es immer wieder zu großen Krisen kommt, was die Ursachen dafür sind und was man aus der Geschichte lernen kann, erklärt Wirtschaftshistoriker Moritz Schularick.
SN: Welche Rolle nimmt die Pleite von Lehman in der Finanzkrise ein?
Moritz Schularick: Es war der sichtbare Zusammenbruch des amerikanischen Finanzsystems, der fundamentale Probleme und Schieflagen an den Vermögens- und Häusermärkten ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit brachte. Insofern war Lehman kein isolierter Event, sondern ein Symptom.
SN: Was hat denn der Finanzkrise 2008 letztlich den Boden bereitet?
Wir wissen, und das gilt auch für 2008, dass Krisen in der Regel auf Perioden folgen, in denen sich das Kreditwachstum stark beschleunigt, Menschen und Banken bereit sind, Wetten auf die Zukunft einzugehen. Wir wissen auch, dass nicht nur die Menge der Kredite stark steigt, sondern der Preis dafür, also die Risikoprämie, auffällig niedrig ist. Das ist ein klarer Zusammenhang, der sich durch die Geschichte zieht.
SN: Wird dieses Wissen ignoriert?
In der Tat stellt sich die Frage, warum es immer wieder zu Krisen kommt, obwohl wir es mit professionellen Akteuren auf dem Finanzmarkt zu tun haben, die rechnen können und Geld verdienen wollen.
SN: Und wie lautet die Antwort?
Die haben wir noch nicht. Ein Argument, warum es ineffiziente Kreditbooms gibt, zielt auf das Eigenkapital ab. Es heißt, dass Banker einen Anreiz haben, exzessive Risiken einzugehen, weil sie, wenn es gut geht, reich werden, und wenn es nicht gut geht, jemand anderes die Rechnung bezahlt, also der Steuerzahler. Dem könne man mit mehr Eigenkapital vorbeugen. Diese These stand im vergangenen Jahrzehnt oft im Vordergrund. Aber ich bin da skeptisch. SN: Wieso? Die Frage, ob mehr Eigenkapital ungesunde Kreditbooms verhindert, ist eine andere als die, ob mehr Eigenkapital die Kosten der Krise für die Gesellschaft senkt. Beim zweiten sage ich ja, weil Banken mit mehr Eigenkapital mehr Verluste selbst tragen können.
SN: Lehman fehlte es nicht an Kapital, der Bank ging das Geld aus. Jetzt hören wir, Banken seien sicherer, weil sie über mehr Eigenkapital verfügen. Das stimmt also nicht?
Kapital hilft bei der Bewältigung der Krise, es verringert die sozialen Kosten. Aber es gibt so gut wie keine empirische Evidenz, dass es im Vorhinein die Wahrscheinlichkeit für eine Krise senkt. Eigenkapital ist für Krisen ein schlechter Maßstab. Niemand wusste, wie viel Kapital Lehman hatte, weil auch niemand wusste, was die Vermögenstitel in ihren Büchern wert waren.
SN: Ihre Forschungen haben ergeben, dass es Kreditbooms gibt, die gut enden, und solche, die schlecht ausgehen. Was gibt den Ausschlag?
Kreditbooms sind erstens gefährlich, wenn sie sich in den Immobilienpreisen niederschlagen. Das führt am Ende dazu, dass sich Kredite und Vermögenspreise gegenseitig hochschaukeln. Ein zweiter Indikator ist, wenn Banken in Relation zu den Einlagen zu viel Kredit vergeben, und sich Mittel kurzfristig auf dem Markt besorgen müssen. Ein drittes Warnsignal ist, wenn zur Befeuerung des Kreditbooms ausländisches Kapital angezogen wird. Diese drei Indikatoren erklären ein Drittel bis die Hälfte der Kreditbooms der vergangenen 150 Jahre.
SN: Gibt es aktuell einen Kreditboom, der gefährlich werden könnte?
Der Elefant im Zimmer ist China, was das Kreditwachstum im vergangenen Jahrzehnt angeht. Die Wahrscheinlichkeit, dass es da zu einer massiven Finanzkrise kommt, liegt quasi bei eins (ist also fast sicher, Anm.).
SN: Zurück zu 2008, was gab letztlich den Ausschlag, dass es eine weltweite Wirtschaftskrise wurde?
Es müssen, wie auch 1929, die großen Volkswirtschaften und Finanzzentren involviert sein. 2008 spielte eine große Rolle, dass man sich in der Makroökonomie und letztlich in der Politik in den 20 Jahren vor der Krise eingeredet hat, das so etwas gar nicht passieren kann. In den Modellen kamen
Mehr Eigenkapital der Banken senkt die sozialen Kosten einer Krise. Moritz Schularick Wirtschaftshistoriker
Banken oder ineffiziente Kreditbooms nicht vor. Dieses Denken hielt auch in den Zentralbanken Einzug, das Modell, mit dem sie und Regulierer auf die Welt schauten, war: Märkte sind effizient, die Akteure unter Verwendung aller verfügbaren Informationen völlig rational – in der Vorstellung lebte man in der besten aller Welten.
SN: Die Sicht der Aufseher und der Regulierer hat sich geändert, es gibt viele neue Regeln. Ist das Bankensystem dadurch sicherer geworden?
Ich glaube eigentlich nicht. Wir haben weiter eine enge Verzahnung des Bankensektors und der Immobilienmärkte. In den Industrieländern sind im Durchschnitt zwei Drittel der Bankenkredite in der einen oder anderen Art mit Immobilien besichert. Das ist problematisch, weil das, was Banken in den Büchern haben, ein nicht diversifiziertes Marktrisiko ist. Sie gehen also Risiken ein, die nur die Zentralbanken und die Steuerzahler absichern können. Auf den Punkt gebracht: Brechen die Immobilienmärkte ein, haben wir wieder eine Finanzkrise.
SN: Wenn es Muster gibt, wie sich Finanzkrisen aufbauen: Was lehrt uns die Geschichte, um dafür in Zukunft besser gewappnet zu sein?
Ich denke, eine Lektion ist, dass es einen Zusammenhang zwischen Kreditwachstum, Vermögenspreisen und der Wahrscheinlichkeit für Krisen gibt. Das haben alle realisiert. Die zweite Lektion ist, Preissignalen der Finanzmärkte nicht blind zu vertrauen. Es gibt sehr viele Hinweise für systematische Fehlbewertungen. Man sollte also die Bewertung von Vermögenstiteln mit einer guten Portion Skepsis betrachten. In Deutschland (auch in Österreich, Anm.) gab es im Handelsgesetzbuch früher das Niederstwertprinzip. Das hat man irgendwann zugunsten der Bewertung nach Marktpreisen abgeschafft. Damit segelt man hart am Wind, das ist der amerikanische Zugang, Europäer neigen eher zur Vorsicht. Die Frage ist, welche Kosten die hat. Jüngste Arbeiten von Kollegen zum Nettoeffekt von Kreditbooms suggerieren, dass das Wachstum nicht so viel höher ist, dass es die Kosten von Krisen kompensiert. Man könnte also stärker regulieren, ohne dass das Wachstumstempo massiv sinken würde.
Moritz Schularick (*1975) lehrt nach Studien in Berlin, Paris und London Makroökonomie an der Uni Bonn. Seine Arbeiten zu den Ursachen von Finanzkrisen und zur Ordnung des Finanzsystems finden weltweit Beachtung.