„Und erschlagt sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von woher sie euch vertrieben. Denn Unterdrückung ist schlimmer als Totschlag. (…) Und bekämpft sie, bis die Unterdrückung aufgehört hat und der Glaube an Gott da ist. Und so sie ablassen,
In der ersten Phase der Verkündigung des Islams durch Muhammad – 610 bis 622 in Mekka – wurde den Muslimen, die immer wieder verfolgt und gefoltert wurden, jede militärische Verteidigung untersagt. Der erste koranische Vers, der den Muslimen dies erlaubte, wurde Ende des ersten Jahres bzw. Anfang des zweiten Jahres nach der Auswanderung Muhammads nach Medina verkündet, also etwa im Jahre 623. Er lautet: „Denjenigen, die bekämpft werden, ist die Erlaubnis (zum Kämpfen) erteilt worden, weil ihnen (vorher) Unrecht geschehen ist. Gott hat die Macht, ihnen zu helfen. (Ihnen) die unberechtigterweise aus ihren Häusern vertrieben wurden, nur weil sie sagen: Unser Herr ist Gott“(Q 22:39–40).
Der oben zitierte Vers (191) aus der zweiten Sure gehört zu dieser frühen Phase in Medina, in der allerdings nur die Selbstverteidigung der Muslime erlaubt war. Sehr oft wird dieser Vers verkürzt und missverständlich so wiedergegeben: „tötet Ungläubige, wo immer ihr sie findet“. Allerdings erklärt der Vers davor (190), worum es eigentlich geht: „Bekämpft auf Gottes Weg die, die euch bekämpfen! Handelt aber nicht widerrechtlich.“Es geht also auch hier um Selbstverteidigung, nicht um Missionierung mit Gewalt.
Im folgenden Vers (192) werden die Kämpfenden an die Vergebung und Barmherzigkeit Gottes erinnert: „Wenn sie aber aufhören, Gott ist voller Vergebung und barmherzig“(Q 2:192). Es ist die wegen Ungerechtigkeiten und Unterdrückung aufgewühlte innere Stimme Gottes, die in solchen historischen Situationen im Koran geoffenbart wird. Daher zeugen solche koranischen Stellen von der Empathie Gottes gerade mit den Schwachen, Unterdrückten und Leidenden.
Man muss an dieser Stelle selbstkritisch sagen, dass nicht alle Exegeten diese und ähnliche Verse in ihren historischen, vor allem kriegerischen Kontexten verortet haben, sie als Legitimation für Gewalt als Mittel der Mission verstanden haben. Auf solche Lesart berufen sich Extremisten wie IS und andere, die Gewalt im Namen des Islams verüben.
Heute neigen viele Exegeten dazu, wenn sie zum Thema Gewalt im Koran gefragt werden, aus einer apologetischen Haltung heraus nur diejenigen Verse aus dem Koran auszuwählen, die vom Frieden sprechen. Diese selektive Vorgehensweise ist jedoch wenig hilfreich, weil am Ende Aussage gegen Aussage steht. In seiner Doktorarbeit zum Thema Glaubensfreiheit im Islam hat der Wiener Theologe und Prediger Adnan Ibrahim alle koranischen Verse, die sich mit dem Thema Gewalt auseinandersetzen, in ihren historischen Kontexten reflektiert. Er konnte zeigen, dass es um bestimmte historische Ereignisse ging, die der Koran kommentiert, und keineswegs um pauschale Aussagen, die zur Gewalt aufrufen würden. Adnan Ibrahim liest den Koran als in der damaligen Zeit verkündetes Buch. Das ist sicher hilfreicher als eine wortwörtliche Lesart.
Ich lese in den obigen Versen, die gleichzeitig an die Vergebung und die Barmherzigkeit Gottes erinnern, einen Aufruf, sich für mehr Gerechtigkeit und Humanität in der Welt einzusetzen, und zwar mit den Mitteln der Barmherzigkeit. Es offenbart sich hier die Stimme eines empathischen Gottes, der sich auf die Seite der Leidenden und Unterdrückten stellt und uns aufruft, Werkzeuge seiner liebenden Barmherzigkeit zu sein. Wir sollen Ungerechtigkeiten, Leid und Unterdrückung in der Welt keineswegs mit Ignoranz begegnen, sondern sie mit den Mitteln bekämpfen, die uns zur Verfügung stehen. Heute haben wir viele Mittel zur Verfügung – und zwar
jenseits von Gewalt.