Ein Lehrstück von der Zeit
Die selbstherrliche Art und Weise, wie die EU-Gewaltigen in den Tagesablauf ihrer Untertanen eingreifen, lässt für künftige Entscheidungsfindungen Schlimmes befürchten.
Man mag einwenden, dass es wichtigere Probleme gibt. Und man mag damit sogar recht haben. Dennoch ist die Art und Weise, wie im EU-Raum gerade der zwecks sommerlicher und winterlicher Zeitanpassung halbjährlich vorgenommenen Uhrenumstellung der Garaus gemacht wird, ein hübsches Beispiel für die Politik- und Debattenkultur im frühen 21. Jahrhundert. In diesem Lehrstück kommen Politiker vor, die eine Internet-Zufallsmehrheit nicht von einer demokratischen Mehrheitsentscheidung unterscheiden können; in diesem Stück kommen Wissenschafter vor, die sich mit schrägen Thesen lächerlich machen; und es kommt ein europäisches Publikum vor, das all das stoisch hinnimmt.
Selbst Freunde der gepflegten Absurdität kommen in diesem Lehrstück rund um unsere Zeit auf ihre Rechnung. Ein Münchner Professor warnte dieser Tage mit Nachdruck davor, was passieren würde, würden wir – statt im Herbst an der Uhr zu drehen – auf GanzjahresSommerzeit umstellen. „Wir Europäer“würden in diesem Fall „dicker, dümmer und gefräßiger“. Warum? Weil wir bei permanenter Sommerzeit deutlich öfter im Dunkeln aufstehen müssten. Das erhöhe die Wahrscheinlichkeit für Diabetes und Depressionen. Es führe zu Schlafproblemen und schränke die Lernfähigkeit ein. Und das alles, weil bei permanenter Sommerzeit die Sonne, logisch, eine Stunde später aufgeht.
Man wagt kaum, die nun folgenden Zeilen in eine Salzburger Zeitung zu setzen, doch wenn der Herr Professor recht hat, dann müssten die Salzburger den Bewohnern Wiens in puncto seelischer, körperlicher und geistiger Gesundheit weit unterlegen sein. Und zwar exakt um jene 300 Kilometer, um die in Salzburg – übrigen ganz ohne permanente Sommerzeit – die Sonne später aufgeht als in Wien. Derzeit beträgt die Intelligenz- und Diabetesdifferenz rund eine Viertelstunde. Noch depressiver, diabetesbehafteter und lernschwächer müssten dieser Theorie zufolge ausgerechnet die fleißigen Vorarlberger sein, denen die Sonne noch weit später leuchtet als den Salzburgern. Von den bedauernswerten Bewohnern der westlichen Regionen Frankreichs gar nicht erst zu reden, oder von den Nordnorwegern, die im Winter gar keine Sonne sehen, einerlei, in welche Richtung sie die Uhr drehen. Absurd!
Ebenso absurd wie die Haltung der zuständigen Minister der österreichischen Bundesregierung, die kürzlich ausgerechnet auf ihrer Dienstreise in Fernost von der Nachricht ereilt wurden, dass die Zeitumstellung in Europa abgeschafft werden solle. Diese Nachricht sei ausgezeichnet, befand etwa Infrastrukturminister Norbert Hofer, denn das Verstellen der Uhr um eine Stunde sei dem Menschen absolut unzuträglich. Sagte der Minister, der soeben nach 12-stündigem Flug aus dem Flugzeug gestiegen war und seine Uhr um sechs Stunden verstellt hatte, ohne sichtbaren körperlichen und seelischen Schaden genommen zu haben.
Abgesehen von derlei Kabaretteinlagen hat die Angelegenheit freilich auch einen ernsteren Aspekt. Wie stellt sich Europa eigentlich den Umgang mit seinen Bürgern vor? Ein kleiner Bruchteil der EU-Bürger hatte sich in einer Internet-Abstimmung für die Abschaffung der Zeitumstellung ausgesprochen. Und schon wurde dieser Wunsch von EU-Kommissionspräsident Juncker als unbändiger Wille des Volkes interpretiert und apportiert, und schon apportierten auch die Regierungen, vor allem die österreichische. Selbst jene, die sonst bei jeder Gelegenheit nach der direkten Demokratie rufen, schwiegen. Dabei wäre das Für und Wider der Zeitumstellung eine ideale Fragestellung für eine Volksabstimmung. Denn hier ist tatsächlich jedermann betroffen, und hier kann tatsächlich jedermann eine fundierte Meinung äußern – nämlich seine. Nichts davon. Schon 2019 soll die Zeitumstellung Geschichte sein, befindet die EU-Kommission.
Man mag einwenden, dass es wichtigere Probleme gibt. Und man mag damit sogar recht haben. Doch die Art und Weise, wie hier hinter verschlossenen Türen über eine doch spürbare Alltagsfrage entschieden wurde, lässt für künftige politische Entscheidungsfindungen in der EU Schlimmes ahnen.