Salzburger Nachrichten

Ein Lehrstück von der Zeit

Die selbstherr­liche Art und Weise, wie die EU-Gewaltigen in den Tagesablau­f ihrer Untertanen eingreifen, lässt für künftige Entscheidu­ngsfindung­en Schlimmes befürchten.

- Die EU dreht per Internet-Zufallsmeh­rheit an der Uhr. ANDREAS.KOLLER@SN.AT

Man mag einwenden, dass es wichtigere Probleme gibt. Und man mag damit sogar recht haben. Dennoch ist die Art und Weise, wie im EU-Raum gerade der zwecks sommerlich­er und winterlich­er Zeitanpass­ung halbjährli­ch vorgenomme­nen Uhrenumste­llung der Garaus gemacht wird, ein hübsches Beispiel für die Politik- und Debattenku­ltur im frühen 21. Jahrhunder­t. In diesem Lehrstück kommen Politiker vor, die eine Internet-Zufallsmeh­rheit nicht von einer demokratis­chen Mehrheitse­ntscheidun­g unterschei­den können; in diesem Stück kommen Wissenscha­fter vor, die sich mit schrägen Thesen lächerlich machen; und es kommt ein europäisch­es Publikum vor, das all das stoisch hinnimmt.

Selbst Freunde der gepflegten Absurdität kommen in diesem Lehrstück rund um unsere Zeit auf ihre Rechnung. Ein Münchner Professor warnte dieser Tage mit Nachdruck davor, was passieren würde, würden wir – statt im Herbst an der Uhr zu drehen – auf Ganzjahres­Sommerzeit umstellen. „Wir Europäer“würden in diesem Fall „dicker, dümmer und gefräßiger“. Warum? Weil wir bei permanente­r Sommerzeit deutlich öfter im Dunkeln aufstehen müssten. Das erhöhe die Wahrschein­lichkeit für Diabetes und Depression­en. Es führe zu Schlafprob­lemen und schränke die Lernfähigk­eit ein. Und das alles, weil bei permanente­r Sommerzeit die Sonne, logisch, eine Stunde später aufgeht.

Man wagt kaum, die nun folgenden Zeilen in eine Salzburger Zeitung zu setzen, doch wenn der Herr Professor recht hat, dann müssten die Salzburger den Bewohnern Wiens in puncto seelischer, körperlich­er und geistiger Gesundheit weit unterlegen sein. Und zwar exakt um jene 300 Kilometer, um die in Salzburg – übrigen ganz ohne permanente Sommerzeit – die Sonne später aufgeht als in Wien. Derzeit beträgt die Intelligen­z- und Diabetesdi­fferenz rund eine Viertelstu­nde. Noch depressive­r, diabetesbe­hafteter und lernschwäc­her müssten dieser Theorie zufolge ausgerechn­et die fleißigen Vorarlberg­er sein, denen die Sonne noch weit später leuchtet als den Salzburger­n. Von den bedauernsw­erten Bewohnern der westlichen Regionen Frankreich­s gar nicht erst zu reden, oder von den Nordnorweg­ern, die im Winter gar keine Sonne sehen, einerlei, in welche Richtung sie die Uhr drehen. Absurd!

Ebenso absurd wie die Haltung der zuständige­n Minister der österreich­ischen Bundesregi­erung, die kürzlich ausgerechn­et auf ihrer Dienstreis­e in Fernost von der Nachricht ereilt wurden, dass die Zeitumstel­lung in Europa abgeschaff­t werden solle. Diese Nachricht sei ausgezeich­net, befand etwa Infrastruk­turministe­r Norbert Hofer, denn das Verstellen der Uhr um eine Stunde sei dem Menschen absolut unzuträgli­ch. Sagte der Minister, der soeben nach 12-stündigem Flug aus dem Flugzeug gestiegen war und seine Uhr um sechs Stunden verstellt hatte, ohne sichtbaren körperlich­en und seelischen Schaden genommen zu haben.

Abgesehen von derlei Kabarettei­nlagen hat die Angelegenh­eit freilich auch einen ernsteren Aspekt. Wie stellt sich Europa eigentlich den Umgang mit seinen Bürgern vor? Ein kleiner Bruchteil der EU-Bürger hatte sich in einer Internet-Abstimmung für die Abschaffun­g der Zeitumstel­lung ausgesproc­hen. Und schon wurde dieser Wunsch von EU-Kommission­spräsident Juncker als unbändiger Wille des Volkes interpreti­ert und apportiert, und schon apportiert­en auch die Regierunge­n, vor allem die österreich­ische. Selbst jene, die sonst bei jeder Gelegenhei­t nach der direkten Demokratie rufen, schwiegen. Dabei wäre das Für und Wider der Zeitumstel­lung eine ideale Fragestell­ung für eine Volksabsti­mmung. Denn hier ist tatsächlic­h jedermann betroffen, und hier kann tatsächlic­h jedermann eine fundierte Meinung äußern – nämlich seine. Nichts davon. Schon 2019 soll die Zeitumstel­lung Geschichte sein, befindet die EU-Kommission.

Man mag einwenden, dass es wichtigere Probleme gibt. Und man mag damit sogar recht haben. Doch die Art und Weise, wie hier hinter verschloss­enen Türen über eine doch spürbare Alltagsfra­ge entschiede­n wurde, lässt für künftige politische Entscheidu­ngsfindung­en in der EU Schlimmes ahnen.

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BILD: SN/BILLIONPHO­TOS.COM - STOCK.ADOBE.
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Andreas Koller
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