Die Geige gewinnt neue Spielarten
Schöne Melodie? Junge Komponisten interessiert das kaum. Dies deutet darauf hin, dass eine Revolution dräut.
WIEN. Am Beispiel der Geige lassen sich Vorboten eines Wandels erkennen, der so drastisch sein dürfte, dass künftige Musik mit heutigen Ohren kaum noch zu verstehen sein wird. Die vielen derzeit neuartigen Klangereignisse legten eine Vermutung nahe: „Die Neue Musik kommt allmählich zu ihrem Ende“, sagt Sven Hartberger. Er hat Kompetenz und Erfahrung, um eine musikalische Revolution einzuschätzen, wie sie offenbar bevorsteht: Seit 1999 leitet er das Klangforum Wien, ein europaweit herausragendes Ensemble für zeitgenössische Musik.
Der Begriff „Neue Musik“, den Sven Hartberger verwendet, ist eigentlich alt: Es ist jenes weite Feld der Avantgarden, das sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit Atonalität und Zwölftonmusik aufgetan hat. Die damalige Befreiung von den Pflichten der Harmonik hat den Fantasien neue Freiräume und einen unübersehbaren Reichtum an Musik hervorgebracht. Doch: „Die Schaffensgeschichte der Neuen Musik könnte in ihr Endstadium eingetreten sein“, sagte Sven Hartberger. Was dem folgen könnte, sei „in seiner Stoßrichtung und Gestalt“noch nicht erkennbar.
Diese künftige Musik könnte für heutige Ohren und gar für Experten der Neuen Musik großteils unverständlich sein. Sven Hartberger erläuterte dies am Montag im Pressegespräch über das Programm 2018/19 am Beispiel der Geige. Vor einigen Tagen habe ihm der Geiger und Dirigent Ernst Kovacic, der an der Musikuniversität Wien Kompositionsklassen unterrichte, Folgendes erzählt: Frage man Kompositionsstudenten, warum sie dort oder da eine Geige einsetzten, bleibe eine Antwort aus. Auf den Hinweis, die Geige sei doch ideal, um eine Art Melodie in ein Musikstück zu bringen, blicke man in ratlose Gesichter. Dafür gäben heutige Studenten Partituren ab, denen zufolge Geigen keinen einzigen Ton im herkömmlichen Sinne von sich gäben, sondern ausschließlich kratzend, schabend oder auf den Korpus klopfend.
„Dieses Geräuschhafte“, also das Spielen klassischer Instrumente in anderer als klassischer Weise, ist längst Usus in der Neuen Musik. Doch dies wird offenbar so weit getrieben, dass sich auch die Exponenten der Neuen Musik immer öfter über neue Kompositionen empörten: „Das ist doch keine Musik!“, erzählt Sven Hartberger. Darauf erwiderten Musiker der nächsten Generation: Sie interessiere nicht, ob man etwas „Musik“nenne.
Er vergleicht das jetzige „Stadium eines Übergangs“mit der Vorklassik: Um 1750 sei das Barock vorüber und die Klassik noch nicht da gewesen. Wie umwälzend die klassische Musik gewesen sei, habe der Dirigent John Eliot Gardiner deutlich gemacht, dem zufolge das gesamte Werk Ludwig van Beethovens zu dessen Lebzeiten verboten gewesen wäre, wenn die Zensoren nicht so unmusikalisch gewesen wären.
Musik sei „ein feiner Seismograf“, sagt Sven Hartberger. In großer Musik sei etwas über Lebensumstände, Lebensgefühle und soziale Gegebenheiten zu erfahren. Sie vermittle etwas vom „geistigen Halt einer Zeit“. Daher sei keine Trauer angesagt, wenn die Epoche der Neuen Musik demnächst ende. Auch Renaissancemusik oder Klassik wird noch immer gern gehört. Sven Hartberger folgert: „Die große Rezeptionsgeschichte der Neuen Musik steht jetzt an ihrem Anfang.“
Wie klingen Vorboten der sich abzeichnenden Musikepoche? „Es hat wenig mit Klang zu tun“, sagt Sven Hartberger, schränkt aber ein: Künftige Neuartigkeit bedinge ja heutige Unbeschreibbarkeit.
Wer sind Protagonisten von so einer Post-Neuen Musik? Da nennt er die Komponisten Brigitta Muntendorf und Stefan Prins sowie das Kölner Ensemble Garage und das belgische Ensemble Nadar als „Exponenten einer Musikrichtung, die ich nicht mehr ohne Weiteres in die Tradition der Neuen Musik mit dem großen N einordnen würde“.
Was sind heutige „Lebensgefühle und Lebensumstände“, die sich in Kompositionen niederschlagen könnten? Das erste Schlagwort ist die Digitalisierung. Nicht mehr Geige und Klavier ergäben den Referenzrahmen, sondern Laptop und Video-Beamer, schildert Sven Hartberger. Auffallend sei zudem die verringerte Aufmerksamkeitsdauer. Vor Kurzem seien in Ingolstadt in einem Konzert mit Werken Neuer Musik aus 50- oder 60-MinutenWerken nur die jeweils fünf stärksten Minuten gespielt worden.
Auch das Klangforum Wien begibt sich – neben den Konzerten im In- und Ausland – auf neues Terrain: Eine Besonderheit sind Aufträge an zehn Filmemacherinnen und zehn Komponistinnen, sich mit dem Konzept der GemeinwohlÖkonomie des österreichischen Attac-Mitbegründers Christian Felber zu befassen. Das Projekt heißt „Zum Gemeinwohl! – 20 Frauen animieren ein europäisches Gespräch über die Zukunft der Welt“; nach der Uraufführung dieser Animationsfilmkompositionen im Februar in Stuttgart wird dies am 4. März in Wien und am 5. Mai in der Elbphilharmonie in Hamburg gespielt.
Noch eine von vielen Neuigkeiten zu Beginn der letzten Saison der Intendanz Sven Hartbergers, bevor am 1. Jänner 2020 Peter Paul Kainrath antreten wird: Der bisherige Erste Gastdirigent Sylvain Cambreling wird Ehrenmitglied, sein Nachfolger ist seit 1. September der 44jährige Niederländer Bas Wiegers.
„Junge Komponisten interessiert nicht, ob wir etwas ,Musik‘ nennen.“ Sven Hartberger, Klangforum Wien