Europa hätte sich mehr Ernsthaftigkeit verdient
Christian Kern und Europa: Das wird wohl keine Karriere im EU-Format, sondern eher nur ein kurzes Zwischenspiel.
Zugegeben, viel ungeschickter als Christian Kern kann man Karriereplanung nicht anlegen. Erst wochenlange Schwindel-Dementis. Dann aus heiterem Himmel die napoleonartige Selbst-Inthronisation („Und deshalb habe ich persönlich mich entschieden, bei der Europawahl zu kandidieren. Als Spitzenkandidat der SPÖ“). Dies verbunden mit der absurden Andeutung, trotz beschlossenen Rückzugs von der Parteispitze erst im nächsten Jahr den Chefsessel frei machen zu wollen: Es handelt sich um ein Lehrbeispiel dafür, wie Politik nicht geht. Dass Kern den in zwei Wochen geplanten SPÖ-Parteitag ruinierte und die am Dienstag gestartete Anti-RegierungsKampagne seiner roten Gewerkschafter ins mediale Nirwana verdrängte, sei am Rande erwähnt.
Nur: All diese Unzulänglichkeiten empören wohl weniger die Bürger als vielmehr die politisch-mediale Twitter-Blase, die sich seit Dienstagmittag in hellster Aufregung befindet. Die Wählerinnen und Wähler werden eine Spur weniger Interesse für die roten Palastintrigen aufbringen. Wenn die SPÖ noch über ein Mindestmaß an Professionalität verfügte, könnte sie der ganzen Angelegenheit in den Monaten bis zur EU-Wahl einen ganz anderen „spin“geben. Seht her – so könnte die Erzählung der SPÖ lauten –, wir schicken nicht irgendeinen Opa nach Europa, sondern einen einstigen Regierungschef, der dank seiner Erfahrungen und Fähigkeiten als unser Mann im EUParlament Großes für die Union leisten kann. Einen Mann, der den erstarkenden Nationalisten und Rechtspopulisten Paroli bieten wird. Einen Mann, der möglicherweise sogar das Zeug hat, als Spitzenkandidat nicht nur der SPÖ, sondern der gesamten europäischen Sozialdemokratie eine Rolle im Europaformat zu spielen. Sollte die SPÖ professionell genug sein, diese Erzählung zum Inhalt ihrer Wahlkampagne zu machen, ist ein Erfolg nicht auszuschließen.
Wobei immer die Frage ist, was man unter „Erfolg“versteht. Es ist sicher nicht das Lebensziel Christian Kerns, als einer von 705 EU-Mandataren zu enden. Doch exakt das wäre sein Schicksal, falls es ihm nicht gelingt, Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten zu werden. Und selbst in diesem Fall winkt wohl nicht die ganz große EU-Karriere. Denn Kommissionspräsident wird voraussichtlich der Repräsentant der stärksten EP-Fraktion, und das werden nicht die Sozialdemokraten sein. Wahrscheinlich ist Kerns EU-Karriere nur ein kurzes Zwischenspiel, so wie es seine Karriere als Kanzler und Parteichef war. Europa hätte sich mehr Ernsthaftigkeit verdient.