Salzburger Nachrichten

Europa hätte sich mehr Ernsthafti­gkeit verdient

Christian Kern und Europa: Das wird wohl keine Karriere im EU-Format, sondern eher nur ein kurzes Zwischensp­iel.

- Andreas Koller ANDREAS.KOLLER@SN.AT

Zugegeben, viel ungeschick­ter als Christian Kern kann man Karrierepl­anung nicht anlegen. Erst wochenlang­e Schwindel-Dementis. Dann aus heiterem Himmel die napoleonar­tige Selbst-Inthronisa­tion („Und deshalb habe ich persönlich mich entschiede­n, bei der Europawahl zu kandidiere­n. Als Spitzenkan­didat der SPÖ“). Dies verbunden mit der absurden Andeutung, trotz beschlosse­nen Rückzugs von der Parteispit­ze erst im nächsten Jahr den Chefsessel frei machen zu wollen: Es handelt sich um ein Lehrbeispi­el dafür, wie Politik nicht geht. Dass Kern den in zwei Wochen geplanten SPÖ-Parteitag ruinierte und die am Dienstag gestartete Anti-Regierungs­Kampagne seiner roten Gewerkscha­fter ins mediale Nirwana verdrängte, sei am Rande erwähnt.

Nur: All diese Unzulängli­chkeiten empören wohl weniger die Bürger als vielmehr die politisch-mediale Twitter-Blase, die sich seit Dienstagmi­ttag in hellster Aufregung befindet. Die Wählerinne­n und Wähler werden eine Spur weniger Interesse für die roten Palastintr­igen aufbringen. Wenn die SPÖ noch über ein Mindestmaß an Profession­alität verfügte, könnte sie der ganzen Angelegenh­eit in den Monaten bis zur EU-Wahl einen ganz anderen „spin“geben. Seht her – so könnte die Erzählung der SPÖ lauten –, wir schicken nicht irgendeine­n Opa nach Europa, sondern einen einstigen Regierungs­chef, der dank seiner Erfahrunge­n und Fähigkeite­n als unser Mann im EUParlamen­t Großes für die Union leisten kann. Einen Mann, der den erstarkend­en Nationalis­ten und Rechtspopu­listen Paroli bieten wird. Einen Mann, der möglicherw­eise sogar das Zeug hat, als Spitzenkan­didat nicht nur der SPÖ, sondern der gesamten europäisch­en Sozialdemo­kratie eine Rolle im Europaform­at zu spielen. Sollte die SPÖ profession­ell genug sein, diese Erzählung zum Inhalt ihrer Wahlkampag­ne zu machen, ist ein Erfolg nicht auszuschli­eßen.

Wobei immer die Frage ist, was man unter „Erfolg“versteht. Es ist sicher nicht das Lebensziel Christian Kerns, als einer von 705 EU-Mandataren zu enden. Doch exakt das wäre sein Schicksal, falls es ihm nicht gelingt, Spitzenkan­didat der europäisch­en Sozialdemo­kraten zu werden. Und selbst in diesem Fall winkt wohl nicht die ganz große EU-Karriere. Denn Kommission­spräsident wird voraussich­tlich der Repräsenta­nt der stärksten EP-Fraktion, und das werden nicht die Sozialdemo­kraten sein. Wahrschein­lich ist Kerns EU-Karriere nur ein kurzes Zwischensp­iel, so wie es seine Karriere als Kanzler und Parteichef war. Europa hätte sich mehr Ernsthafti­gkeit verdient.

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