Sprachverweigerung hält uns von der Wirklichkeit fern
Wer nur noch über Computernetzwerke kommuniziert, verpasst einen wichtigen Teil des Lebens.
Man stelle sich folgende Szene vor: In einem Restaurant auf einer beliebten Ferieninsel, in dem man einen Tisch nur bekommt, wenn man Tage vorher reserviert; am Nebentisch nimmt ein Paar Platz, beide ca. 30 Jahre jung, braun gebrannt, sie hochschwanger. Nach der Lektüre der Speisekarte und der Bestellung beginnt die Kommunikation der beiden. Nein, nicht miteinander, sondern jeder für sich mit irgendwem auf der Welt per Smartphone. Da wurden Infos ausgetauscht, vermutlich über die Insel, das Restaurant, das Wetter und was sonst noch an Wichtigem mitzuteilen war, statt miteinander zu reden. Das ist bei Weitem kein Einzelfall. Man hat schon ganze Familien gesehen, die sich wortlos jeder oder jede in seiner oder ihrer Cyberwelt verloren angeschwiegen haben. So ist man zwar beisammen, aber nicht wirklich miteinander.
Dazu passt das Ergebnis einer neuen Studie aus den USA über das Kommunikationsverhalten Jugendlicher. Da geben zwei Drittel (!) von tausend befragten 13- bis 17-Jährigen an, sie zögen es vor, mit ihren Freunden online zu kommunizieren statt direkt und persönlich. Nur ein Drittel schaut den Menschen, mit denen sie sich unterhalten, noch gern ins Gesicht. Kommunikation wird also immer distanzierter, man vermeidet den direkten Kontakt, weil man sich so auch nicht durch Mimik und Körpersprache verraten kann. Wird da die Offenheit und Ehrlichkeit im Umgang der Menschen miteinander zu Grabe getragen?
In eine ähnliche Richtung deutet ein Verhalten, das – wiederum ausgehend von den USA und Großbritannien – schon längst nach Europa herübergeschwappt ist. Immer öfter verweigern sich vor allem Studentenorganisationen oder Interessengemeinschaften einer kontroversen Diskussion, indem sie Veranstaltungen verhindern, bei denen ihnen nicht genehme Redner auftreten sollen. Da hört sich schnell einmal alle Liberalität auf, da gilt das Bekenntnis zur Meinungsfreiheit nicht mehr, wenn je- mand provokante Thesen vertreten will. Niemand muss sich solch einen Redner anhören, doch wer anderen Meinungen nicht einmal mehr gestatten will, dass man sie diskutiert, der hat seinen Voltaire nicht verstanden.
Der Philosoph hielt einem Gegner vor: „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“Diese Großzügigkeit entspringt der Erkenntnis, dass nicht nur jeder das Recht auf seine Meinung hat, sondern dass Fortschritt nicht möglich ist ohne eine fruchtbare Diskussion verschiedener Standpunkte.
Wer andere Ansichten gar nicht erst hört, begibt sich der Möglichkeit, seine eigene Meinung an einem Gegenpol zu messen und dabei Bestätigung zu finden oder etwas zu lernen. Wer Kommunikation nur noch indirekt führt statt von Angesicht zu Angesicht, der merkt nicht, wenn er an der Nase herumgeführt wird.