Bleibt Österreich sozial?
Faktencheck: Gibt es den behaupteten Sozialabbau der neuen Regierung tatsächlich?
Die Regierung betreibe eiskalten Sozialabbau: Dieser Vorwurf tönt der schwarz-blauen Koalition mit Regelmäßigkeit aus den Reihen der SPÖ entgegen. Wie weit gehen die Einschnitte im Sozialsystem tatsächlich? Und geht es der Regierung tatsächlich nur, wie sie beteuert, darum, die „Zuwanderung ins Sozialsystem“einzudämmen, oder ist auch die eingesessene Bevölkerung von Kürzungen betroffen?
Fest steht, dass die Reform des Sozialstaats auch in der Regierung selbst Diskussionen auslöst. Bei einigen Themen aus dem Regierungsprogramm, etwa der geplanten Deckelung der Mindestsicherung und der Neuregelung des Arbeitslosengeldes inklusive Abschaffung der Notstandshilfe, sind die Regierungsparteien noch nicht einig.
Für den AK-Arbeitsmarktexperten Gernot Mitter ist die Sachlage klar: „Dass das Programm dieser Regierung ganz zentral im Sozialabbau besteht, ist mittlerweile evident. Die noch nicht realisierten Vorhaben werden das noch einmal beweisen“, kritisiert er.
Differenzierter die Analyse des Ökonomen Wolfgang Nagl vom Thinktank Agenda Austria. Bestimmte Bereiche des Sozialsystems würden tatsächlich „gestrafft“, was vielfach sinnvoll sei. Er nennt die Aufschiebung der Altersteilzeit und die Flexibilisierung durch den Zwölfstundentag. Auf der anderen Seite stünden klare Goodies wie die „absolut zielführende Entlastung“durch den Familienbonus.
Arbeitslosengeld
Laut Regierungsübereinkommen soll ein Arbeitslosengeld neu künftig eine „degressive Gestaltung der Leistungshöhe mit klarem zeitlichen Verlauf und Integration der Notstandshilfe“bringen. Details sind noch nicht bekannt: Die Agenda Austria hat einen konkreten Vorschlag mit beschränkter, maximal dreijähriger Bezugsdauer beginnend mit 65 Prozent und stark fallender Versicherungsleistung vorgelegt. „Wer schnell einen Job findet, kriegt damit sogar mehr Arbeitslosengeld als früher“, erklärt Agenda-Experte Nagl.
Das ebenfalls anstehende Regierungsvorhaben, Zeiten der Arbeitslosigkeit nur mehr kumuliert für zwei Jahre auf die Pension anzurechnen, ist laut AK-Experten Mit- ter ein „Altersarmutsprogramm“für alle Bau- und Saisonarbeiter.
Notstandshilfe
Dass seit 1. Juli das Einkommen des Lebenspartners nicht mehr für die Notstandshilfe angerechnet wird, ist für die Betroffenen erfreulich. Es handelt sich aber nicht um eine türkis-blaue Reform. Die Maßnahme wurde im freien Spiel der Kräfte kurz vor der Wahl beschlossen – sogar mit den Stimmen der FPÖ. Nun will die Regierung die Notstandshilfe – eine Art reduziertes Arbeitslosengeld nach Ende der Bezugsdauer – abschaffen. Zu Jahresbeginn gab es einen Rückzieher der Sozialministerin mit einem anschließenden Rüffel durch den Kanzler. Wird die Notstandshilfe, die immerhin auch Pensionszeiten brachte, abgeschafft, hat das auch Folgen für das Pensionssystem. Nach dem Arbeitslosengeldbezug soll es künftig nur mehr die Mindestsicherung geben. Damit wäre anders als bisher bei der Notstandshilfe ein Zugriff auf das Vermögen möglich – was gerade in die Arbeitslosigkeit geratene Mittelschichtsangehörige treffen würde.
Mindestsicherung
Bei der Mindestsicherung muss Vermögen über 4315,20 Euro pro Haushalt zuvor verwertet werden. ÖVP und FPÖ planen, dass die Mindestsicherung in Zukunft maximal 863,04 Euro für Einzelpersonen beträgt. Wer nicht ausreichend Deutsch kann, soll nur 563 Euro erhalten. Die 863 Euro sind ein Maximalwert als Vorgabe für die Länder. Kinderzuschläge werden beschränkt. Für Drittstaatsangehörige soll eine fünfjährige Wartefrist gelten. Die Neuregelung betreffe zu 70 bis 80 Prozent österreichische Bürger, kritisieren Sozialexperten.
Aktion 20.000
Die große Jobinitiative für ältere Arbeitslose, die von der alten Regierung eingeführt wurde, hat laut der neuen Regierung primär „Scheinjobs“gebracht. Sie ist daher kurz vor Jahreswechsel ausgesetzt worden. Die Sozialministerin spricht davon, dass die Aktion nur „sistiert“sei. Eine Fortsetzung des roten Prestigeprojekts wird allgemein nicht erwartet. Im Budget 2019 ist nur mehr eine Auslauffinanzierung vorgesehen – Reserven für eine Wiederaufnahme im Falle einer positiven Evaluierung gibt es nicht. Die Abnahme der Altersarbeitslosigkeit über 50-Jähriger entsprach ungefähr der Zahl der im Rahmen der Aktion 20.000 aufgenommenen Arbeitslosen, ob tatsächlich nachhaltige Jobs geschaffen wurden, bleibt umstritten.
Das Förderbudget für das AMS wurde durch Auflösung der Arbeitsmarktrücklage von 170 Mill. Euro auf 1,25 Mrd. Euro für 2019 angehoben. Für 2018 waren es allerdings noch 1,4 Mrd.
Altersteilzeit
Der Antritt der Altersteilzeit wurde ab 1. 1. 2019 (schrittweise) um zwei Jahre nach hinten verschoben: auf 55 statt 53 Jahre bei Frauen, auf 60 statt 58 Jahre bei Männern. Das trifft laut AK vor allem Arbeitnehmer in Industrie und Bauwirtschaft, die aufgrund der körperlich verschleißenden Arbeitsbedingungen in die Korridorpension gehen und zuvor ab 58 die Altersteilzeit in Anspruch nehmen konnten. „Natürlich nimmt man hier jemandem etwas weg“, sagt Agenda-Austria-Experte Nagl – aber Zuschüsse vom Steuerzahler dafür, dass man die Arbeitszeit einschränke, seien grundsätzlich nicht zielführend.
Zwölfstundentag
ÖVP und FPÖ sehen eine für die Wirtschaft notwendige Flexibilisierung durch die bereits in Kraft getretenen neuen Regelungen. Die Gewerkschaft spricht von Lohnraub. Silvia Hruska-Frank, AK-Sozialpolitikexpertin, kritisiert die Machtverschiebung. Der Arbeitgeber könne mehr als bisher in die Freizeit eingreifen und diese verschieben oder verkürzen. „Auch bisher haben die Leute nicht nach zehn Stunden den Bleistift fallen gelassen. Es wird einfach der gesellschaftliche Standard verändert.“Das Gesetz werde weit in die Mitte der Bevölkerung reichen. Vor allem Arbeitnehmer mit Schulkindern könnten große Probleme bekommen. Agenda-Austria-Experte Nagl sieht dagegen eine sinnvolle Ausweitung einer Ausnahmeregelung. Man liege immer noch unter dem Standard, den die EU vorgebe, da wäre noch mehr Flexibilisierung möglich. Man darf laut EU-Richtlinie nicht mehr als 48 Wochenstunden in einem Durchrechnungszeitraum von 17 Wochen arbeiten.
Gold Plating
Die Regierung will auch die unerwünschte Übererfüllung von EUMindeststandards eindämmen. Die Debatte sorgte heuer für massive Sozialabbau-Aufregung, weil Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung auch Regelungen beim Mutterschutz oder bei den Urlaubsregelungen (5. Urlaubswoche) aufs Tapet brachten. Reformminister Josef Moser stellte aber früh klar, dass definitiv keine Sozialstandards wie der bestehende Urlaubsanspruch oder der Kündigungsschutz im Mutterschutz gesenkt werden sollen.
Familienbonus
Dass die Hauptadressaten der Entlastung Mittelstandsfamilien sind, wurde von der Regierung nicht bestritten. Man wolle jene entlasten, die schon jetzt sehr viel zahlten. Schließlich sei der Erhalt des Sozialsystems nur durch die Arbeitsund Steuerleistung dieser Familien möglich. Auch Allein- und Geringverdiener bekommen 250 Euro pro Jahr und Kind. An der Darstellung, dass Geringverdiener keine Steuern bezahlen und daher durch Steuersenkungen nicht entlastet werden können, gab es Kritik: Das untere Einkommensdrittel zahlt zwar tatsächlich keine bis wenig Lohnsteuer. Dafür gehen zwischen 30 und 40 Prozent des Einkommens in Sozialversicherung und Konsumsteuern (zum Beispiel Mehrwertsteuer) auf.
Karenzzeit
Die Regierung bemüht sich nun, Eltern, die in Karenz gehen, arbeitsrechtlich besserzustellen. Wer bis zu 24 Monate Karenz nimmt, soll künftig in dieser Zeit alle Gehaltsvorrückungen sowie die entsprechenden Urlaubsansprüche, Kündigungsfristen, Entgeltfortzahlungen und Krankenstandsansprüche angerechnet bekommen. Die Karenzzeit soll wie die Arbeitszeit bewertet werden, das sei ein wichtiger Schritt für eine nachhaltige Familienpolitik und die Gleichstellung von Frau und Mann, wird argumentiert.