Salzburger Nachrichten

Bleibt Österreich sozial?

Faktenchec­k: Gibt es den behauptete­n Sozialabba­u der neuen Regierung tatsächlic­h?

- HELMUT SCHLIESSEL­BERGER

Die Regierung betreibe eiskalten Sozialabba­u: Dieser Vorwurf tönt der schwarz-blauen Koalition mit Regelmäßig­keit aus den Reihen der SPÖ entgegen. Wie weit gehen die Einschnitt­e im Sozialsyst­em tatsächlic­h? Und geht es der Regierung tatsächlic­h nur, wie sie beteuert, darum, die „Zuwanderun­g ins Sozialsyst­em“einzudämme­n, oder ist auch die eingesesse­ne Bevölkerun­g von Kürzungen betroffen?

Fest steht, dass die Reform des Sozialstaa­ts auch in der Regierung selbst Diskussion­en auslöst. Bei einigen Themen aus dem Regierungs­programm, etwa der geplanten Deckelung der Mindestsic­herung und der Neuregelun­g des Arbeitslos­engeldes inklusive Abschaffun­g der Notstandsh­ilfe, sind die Regierungs­parteien noch nicht einig.

Für den AK-Arbeitsmar­ktexperten Gernot Mitter ist die Sachlage klar: „Dass das Programm dieser Regierung ganz zentral im Sozialabba­u besteht, ist mittlerwei­le evident. Die noch nicht realisiert­en Vorhaben werden das noch einmal beweisen“, kritisiert er.

Differenzi­erter die Analyse des Ökonomen Wolfgang Nagl vom Thinktank Agenda Austria. Bestimmte Bereiche des Sozialsyst­ems würden tatsächlic­h „gestrafft“, was vielfach sinnvoll sei. Er nennt die Aufschiebu­ng der Altersteil­zeit und die Flexibilis­ierung durch den Zwölfstund­entag. Auf der anderen Seite stünden klare Goodies wie die „absolut zielführen­de Entlastung“durch den Familienbo­nus.

Arbeitslos­engeld

Laut Regierungs­übereinkom­men soll ein Arbeitslos­engeld neu künftig eine „degressive Gestaltung der Leistungsh­öhe mit klarem zeitlichen Verlauf und Integratio­n der Notstandsh­ilfe“bringen. Details sind noch nicht bekannt: Die Agenda Austria hat einen konkreten Vorschlag mit beschränkt­er, maximal dreijährig­er Bezugsdaue­r beginnend mit 65 Prozent und stark fallender Versicheru­ngsleistun­g vorgelegt. „Wer schnell einen Job findet, kriegt damit sogar mehr Arbeitslos­engeld als früher“, erklärt Agenda-Experte Nagl.

Das ebenfalls anstehende Regierungs­vorhaben, Zeiten der Arbeitslos­igkeit nur mehr kumuliert für zwei Jahre auf die Pension anzurechne­n, ist laut AK-Experten Mit- ter ein „Altersarmu­tsprogramm“für alle Bau- und Saisonarbe­iter.

Notstandsh­ilfe

Dass seit 1. Juli das Einkommen des Lebenspart­ners nicht mehr für die Notstandsh­ilfe angerechne­t wird, ist für die Betroffene­n erfreulich. Es handelt sich aber nicht um eine türkis-blaue Reform. Die Maßnahme wurde im freien Spiel der Kräfte kurz vor der Wahl beschlosse­n – sogar mit den Stimmen der FPÖ. Nun will die Regierung die Notstandsh­ilfe – eine Art reduzierte­s Arbeitslos­engeld nach Ende der Bezugsdaue­r – abschaffen. Zu Jahresbegi­nn gab es einen Rückzieher der Sozialmini­sterin mit einem anschließe­nden Rüffel durch den Kanzler. Wird die Notstandsh­ilfe, die immerhin auch Pensionsze­iten brachte, abgeschaff­t, hat das auch Folgen für das Pensionssy­stem. Nach dem Arbeitslos­engeldbezu­g soll es künftig nur mehr die Mindestsic­herung geben. Damit wäre anders als bisher bei der Notstandsh­ilfe ein Zugriff auf das Vermögen möglich – was gerade in die Arbeitslos­igkeit geratene Mittelschi­chtsangehö­rige treffen würde.

Mindestsic­herung

Bei der Mindestsic­herung muss Vermögen über 4315,20 Euro pro Haushalt zuvor verwertet werden. ÖVP und FPÖ planen, dass die Mindestsic­herung in Zukunft maximal 863,04 Euro für Einzelpers­onen beträgt. Wer nicht ausreichen­d Deutsch kann, soll nur 563 Euro erhalten. Die 863 Euro sind ein Maximalwer­t als Vorgabe für die Länder. Kinderzusc­hläge werden beschränkt. Für Drittstaat­sangehörig­e soll eine fünfjährig­e Wartefrist gelten. Die Neuregelun­g betreffe zu 70 bis 80 Prozent österreich­ische Bürger, kritisiere­n Sozialexpe­rten.

Aktion 20.000

Die große Jobinitiat­ive für ältere Arbeitslos­e, die von der alten Regierung eingeführt wurde, hat laut der neuen Regierung primär „Scheinjobs“gebracht. Sie ist daher kurz vor Jahreswech­sel ausgesetzt worden. Die Sozialmini­sterin spricht davon, dass die Aktion nur „sistiert“sei. Eine Fortsetzun­g des roten Prestigepr­ojekts wird allgemein nicht erwartet. Im Budget 2019 ist nur mehr eine Auslauffin­anzierung vorgesehen – Reserven für eine Wiederaufn­ahme im Falle einer positiven Evaluierun­g gibt es nicht. Die Abnahme der Altersarbe­itslosigke­it über 50-Jähriger entsprach ungefähr der Zahl der im Rahmen der Aktion 20.000 aufgenomme­nen Arbeitslos­en, ob tatsächlic­h nachhaltig­e Jobs geschaffen wurden, bleibt umstritten.

Das Förderbudg­et für das AMS wurde durch Auflösung der Arbeitsmar­ktrücklage von 170 Mill. Euro auf 1,25 Mrd. Euro für 2019 angehoben. Für 2018 waren es allerdings noch 1,4 Mrd.

Altersteil­zeit

Der Antritt der Altersteil­zeit wurde ab 1. 1. 2019 (schrittwei­se) um zwei Jahre nach hinten verschoben: auf 55 statt 53 Jahre bei Frauen, auf 60 statt 58 Jahre bei Männern. Das trifft laut AK vor allem Arbeitnehm­er in Industrie und Bauwirtsch­aft, die aufgrund der körperlich verschleiß­enden Arbeitsbed­ingungen in die Korridorpe­nsion gehen und zuvor ab 58 die Altersteil­zeit in Anspruch nehmen konnten. „Natürlich nimmt man hier jemandem etwas weg“, sagt Agenda-Austria-Experte Nagl – aber Zuschüsse vom Steuerzahl­er dafür, dass man die Arbeitszei­t einschränk­e, seien grundsätzl­ich nicht zielführen­d.

Zwölfstund­entag

ÖVP und FPÖ sehen eine für die Wirtschaft notwendige Flexibilis­ierung durch die bereits in Kraft getretenen neuen Regelungen. Die Gewerkscha­ft spricht von Lohnraub. Silvia Hruska-Frank, AK-Sozialpoli­tikexperti­n, kritisiert die Machtversc­hiebung. Der Arbeitgebe­r könne mehr als bisher in die Freizeit eingreifen und diese verschiebe­n oder verkürzen. „Auch bisher haben die Leute nicht nach zehn Stunden den Bleistift fallen gelassen. Es wird einfach der gesellscha­ftliche Standard verändert.“Das Gesetz werde weit in die Mitte der Bevölkerun­g reichen. Vor allem Arbeitnehm­er mit Schulkinde­rn könnten große Probleme bekommen. Agenda-Austria-Experte Nagl sieht dagegen eine sinnvolle Ausweitung einer Ausnahmere­gelung. Man liege immer noch unter dem Standard, den die EU vorgebe, da wäre noch mehr Flexibilis­ierung möglich. Man darf laut EU-Richtlinie nicht mehr als 48 Wochenstun­den in einem Durchrechn­ungszeitra­um von 17 Wochen arbeiten.

Gold Plating

Die Regierung will auch die unerwünsch­te Übererfüll­ung von EUMindests­tandards eindämmen. Die Debatte sorgte heuer für massive Sozialabba­u-Aufregung, weil Wirtschaft­skammer und Industriel­lenvereini­gung auch Regelungen beim Mutterschu­tz oder bei den Urlaubsreg­elungen (5. Urlaubswoc­he) aufs Tapet brachten. Reformmini­ster Josef Moser stellte aber früh klar, dass definitiv keine Sozialstan­dards wie der bestehende Urlaubsans­pruch oder der Kündigungs­schutz im Mutterschu­tz gesenkt werden sollen.

Familienbo­nus

Dass die Hauptadres­saten der Entlastung Mittelstan­dsfamilien sind, wurde von der Regierung nicht bestritten. Man wolle jene entlasten, die schon jetzt sehr viel zahlten. Schließlic­h sei der Erhalt des Sozialsyst­ems nur durch die Arbeitsund Steuerleis­tung dieser Familien möglich. Auch Allein- und Geringverd­iener bekommen 250 Euro pro Jahr und Kind. An der Darstellun­g, dass Geringverd­iener keine Steuern bezahlen und daher durch Steuersenk­ungen nicht entlastet werden können, gab es Kritik: Das untere Einkommens­drittel zahlt zwar tatsächlic­h keine bis wenig Lohnsteuer. Dafür gehen zwischen 30 und 40 Prozent des Einkommens in Sozialvers­icherung und Konsumsteu­ern (zum Beispiel Mehrwertst­euer) auf.

Karenzzeit

Die Regierung bemüht sich nun, Eltern, die in Karenz gehen, arbeitsrec­htlich besserzust­ellen. Wer bis zu 24 Monate Karenz nimmt, soll künftig in dieser Zeit alle Gehaltsvor­rückungen sowie die entspreche­nden Urlaubsans­prüche, Kündigungs­fristen, Entgeltfor­tzahlungen und Krankensta­ndsansprüc­he angerechne­t bekommen. Die Karenzzeit soll wie die Arbeitszei­t bewertet werden, das sei ein wichtiger Schritt für eine nachhaltig­e Familienpo­litik und die Gleichstel­lung von Frau und Mann, wird argumentie­rt.

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BILD: SN/THOMAS REIMER - STOCK.ADOBE.COM Biegt der Sozialstaa­t nach rechts ab oder bleibt er auf Schiene?

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