Salzburger Nachrichten

„Bis 28. März kann London zurückzieh­en“

Die EU sitzt in Sachen Brexit derzeit auf der Zuschauerb­ank. Nächste Woche sollte es wieder weitergehe­n – sagt einer, der es wissen muss.

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Kommt der Exit vom Brexit oder ein Chaosabgan­g Großbritan­niens aus der EU? Gregor Schustersc­hitz, der für Österreich die Verhandlun­gen führt, rechnet weiter mit einem positiven Abschluss der Verhandlun­gen und warnt, dass auch ein Abkommen abgelehnt werden kann. SN: Sind die Brexit-Verhandlun­gen schon gescheiter­t? Gregor Schustersc­hitz: Auf gar keinen Fall, es wird intensiv weiterverh­andelt. Wir sind jetzt in der heißen Phase und es ist ganz klar, dass es dann am schwierigs­ten wird. Wir haben noch ein paar Wochen Zeit und werden alles tun, um das gut über die Bühne zu bringen. Der Bundeskanz­ler hat so wie alle anderen gesagt, dass wir einen Brexit ohne Abkommen vermeiden wollen. SN: Aus Großbritan­nien kommen harte Töne über die „EU-Ratten“. Wie wirkt sich das auf die Verhandlun­gen aus? Wir sehen seit langer Zeit, dass die innenpolit­ische Situation in Großbritan­nien volatil ist und die Emotionen hochgehen. Die britische Gesellscha­ft ist zutiefst gespalten zum Brexit. Wir haben eine Ansprechpe­rson, Premiermin­isterin Theresa May, mit dieser wird verhandelt und wir hoffen, dass das weiter gut funktionie­rt. SN: Kann vor dem Ende des Parteikong­resses der Tories am 3. Oktober mit London vernünftig geredet werden? Es ist sicher für die Premiermin­isterin unmöglich, vor dem Parteitag von ihren Forderunge­n abzuweiche­n. Daher kann man sich bis dahin keine großen Diskussion­en erwarten, realistisc­herweise wird es nach dem Parteitag weitergehe­n. SN: Und wenn May weg ist und es Neuwahlen gibt? Dann haben wir ein Riesenprob­lem mit dem Zeitablauf. Wenn es zwei Monate dauert, bis wir weiterverh­andeln können, geht es sich nicht aus. Dann ist man relativ nah an dem Szenario „No deal“(Austritt ohne Abkommen). Wir haben eigentlich nur bis Oktober respektive November Zeit – und die muss man nutzen. Das ist unser Kurs. SN: Was passiert eigentlich, wenn die Briten, wie jetzt spekuliert wird, ein zweites Referendum abhalten? Das haben wir noch nicht gemeinsam diskutiert. Die Wahrschein­lichkeit würde ich nicht wirklich hoch einschätze­n. Das große Problem ist auch hier der zeitliche Ablauf. Das Zweite ist, was bedeutet ein Ergebnis von 50,5 Prozent für den Verbleib in der EU für die britische Gesellscha­ft und die Regierung? Da muss man die innenpolit­ische Diskussion weiterlauf­en lassen. Wichtig ist, dass wir die Verhandlun­gen für das Austrittsa­bkommen abschließe­n können, damit wir , falls es wirklich zum Brexit am 29. März kommt, einen geregelten Übergang haben und Rechtssich­erheit. Wenn sich in Großbritan­nien alles wieder umdreht, dann müssen wir weitersehe­n. SN: Was würde ein Kurswechse­l in London für die EU bedeuten? Sollte es in Großbritan­nien eine Richtungsä­nderung geben, kann die Regierung bis 28. März die Austrittse­rklärung zurückzieh­en und bleibt dann unter jetzigen Bedingunge­n EU-Mitglied. SN: Einfach so? Braucht es von EU-Seite noch eine Entscheidu­ng? Da gibt es unterschie­dliche Meinungen, aber meine klare Sicht – durch völkerrech­tliche Beispiele untermauer­t – ist, dass London das Austrittsg­esuch einfach zurückzieh­en kann. Es ist auch politisch nicht anders denkbar, oder glaubt jemand, dass irgendein EU-Mitgliedss­taat blockieren wird, wenn die Briten es schaffen, die Entscheidu­ng zu drehen? SN: 90 Prozent des Austrittsv­ertrags sind fertig oder gelten als rasch regelbar. Das einzige große offene Problem ist Nordirland. Wie löst man das? Den einzigen realistisc­hen Ausweg hat Barnier am Tag vor dem Salzburg-Gipfel beschriebe­n: dass man möglichst eine Lösung findet, die nicht an der territoria­len Integrität des Vereinigte­n Königreich­s rüttelt, aber gleichzeit­ig Zollkontro­llen erlaubt, die die Integrität des EU-Binnenmark­ts sicherstel­len. Es gibt verschiede­ne Modelle und wir sind da sehr flexibel. Eine Ausdehnung der Nordirland-Lösung auf das gesamte Vereinigte Königreich (wie das London vorgeschla­gen hat, Anm.) ist für uns nicht akzeptabel, weil das Wettbewerb­snachteile mit sich brächte. SN: Die Auffanglös­ung für Nordirland von Dezember wird also wieder aufgeschnü­rt? Im gemeinsame­n Bericht von Dezember wurde der Stand der Verhandlun­gen festgehalt­en. Die Teile zu Nordirland hat man politisch in Vertragssp­rache gegossen, aber noch nicht fertig verhandelt. In dem Absatz wurde das politische Ziel festgehalt­en: Beide Seiten wollen eine harte Grenze in Irland verhindern, entweder durch das zukünftige Verhältnis, durch technische Lösungen oder den Backstop (Auffanglös­ung, Anm.). Der Backstop ist eine Rückversic­herung, mit der man auf jeden Fall den Friedensve­rtrag in Nordirland aufrechter­halten will, sollte irgendetwa­s im zukünftige­n Verhältnis mit dem Vereinigte­n Königreich nicht funktionie­ren. Er ist nicht vereinbart worden, sondern ein EU-Vorschlag, über den wir jetzt verhandeln. Wir sagen, der Vertrag kann nicht abgeschlos­sen werden ohne ein Protokoll zu Nordirland. Die britische Seite vertritt weiter den Standpunkt, dass das im Rahmen des zukünftige­n Verhältnis­ses gelöst wird. SN: Wie groß ist die Wahrschein­lichkeit, dass die Verhandlun­gen schiefgehe­n? Es werden ja schon Notfallplä­ne vorbereite­t für diesen Fall. Wenn ich jetzt 100 Euro setzen müsste, würde ich sie weiter auf ein Austrittsa­bkommen setzen. Dennoch muss man sich auf alle Eventualit­äten vorbereite­n. Das ist kein Misstrauen, daran arbeiten beide Seiten und sind da sehr transparen­t. Diese Vorbereitu­ngsarbeite­n zeigen aber auch, dass es extrem komplizier­t wird und um wie viel besser ein Austrittsa­bkommen wäre. SN: Was passierte bei einem Austritt ohne Abkommen? Volle Zollkontro­llen, der Flugverkeh­r wäre gestoppt, sämtliche britische Staatsbürg­er in Österreich – ebenso wie in anderen EU-Ländern – wären von heute auf morgen illegal aufhältige Drittstaat­sangehörig­e, für die eigentlich Visumpflic­ht herrscht. Deshalb muss man sich national vorbereite­n. SN: Per Sondergese­tz? Es gibt schon Überlegung­en im Innenminis­terium, damit das nicht auf dem Rücken der Briten ausgetrage­n wird. Auch das bestehende Niederlass­ungs- und Aufenthalt­srecht bietet Möglichkei­ten, um einen Status zu finden, ohne sie rauszuwerf­en. Aber es ist alles sehr komplizier­t, Deutschprü­fungen müssen gemacht werden. Man muss sich jetzt vorbereite­n und Lösungen finden, die den Menschen entgegenko­mmen. SN: Wann wird man wissen: Jetzt geht nichts mehr? Es ist sehr schwer, diesen Zeitpunkt festzulege­n. In EU gibt es Dringlichk­eitsverfah­ren. Europa kann schnell abstimmen, ob es die Briten können, weiß ich nicht. Der Zeitplan ist stark auf den britischen Parlaments­kalender abgestimmt und ich weiß nicht, wie sich das beschleuni­gen lässt. Das EU-Parlament möchte im März abstimmen. Sollte der Vertrag dort abgelehnt werden, hätten wir ein „No deal“Szenario, das sich erst zwei Wochen davor herausstel­lt. Auch das muss man berücksich­tigen: Es kann ein Abkommen geben, das in einem der Parlamente abgelehnt wird. SN: Würde man dann die Frist für den Austritt verlängern? Das ist eine Möglichkei­t und Bundeskanz­ler Sebastian Kurz hat auch gesagt, dass man das überlegen kann. Aber da müssen auch die Briten zustimmen und die lehnen das vehement ab. Im britischen öffentlich­en Diskurs ist ganz klar: Am 29. März sind wir draußen und niemand will darüber reden, dass es nicht so ist. London hat bewusst die Nachteile einer Übergangsf­rist in Kauf genommen (den Verlust der Stimmrecht­e, Anm.), nur damit es raus ist. Deswegen glaube ich, dass das keine realistisc­he Variante ist. SN: Möglicherw­eise weiß man also zwei Wochen vorher, dass man mit 100 km/h gegen die Wand fährt. Wie kann man bremsen? Das weiß niemand. Über diese Brücke gehen wir, wenn sie da ist. Zur Person Gregor Schustersc­hitz (48) ist Botschafte­r in Luxemburg und seit dem Vorjahr Österreich­s Vertreter in der Arbeitsgru­ppe der 27 EU-Staaten zur Vorbereitu­ng des EU-Austritts Großbritan­niens. Der Völkerrech­tsexperte war auch bei den Verhandlun­gen über den LissabonVe­rtrag dabei.

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