Gewichtsverlust, Haarausfall, Krankheit
Wahrscheinlich Hunderte, wenn nicht Tausende Wiener Gründerzeithäuser gefährden die Gesundheit ihrer Bewohner. Denn durch die alten Ziegelmauern schlängeln sich durchwegs Wasserleitungen aus Blei. Die SN berichteten kürzlich über jährlich tausend Wasserproben, die bei der Hygieneabteilung der Magistratsabteilung 39 zur Analyse abgegeben werden – wovon ein Fünftel Überschreitungen des Grenzwertes aufweist. Die Wiener Ärztekammer warnte vor diesen Zuständen. Blei sei ein Gift – die Vermieter seien angehalten, die Leitungen rasch zu ersetzen. Diese Forderung löste jedoch eine unerwartete Wendung aus.
Auf den Artikel meldete sich Frau T. bei den SN. Die Wienerin ist nicht nur langjährige Leserin, sondern auch Betroffene. Aus den Leitungen in ihren Büroräumen lief über viele Jahre bleihaltiges Wasser. Pikantes Detail: Der Vermieter (und Hauseigentümer) ist ausgerechnet die Wiener Ärztekammer. Mit ihr trifft sich Frau T. seit sechs Jahren regelmäßig vor Gericht.
Doch der Reihe nach: Frau T. ist seit rund zwei Jahrzehnten Mieterin der Räumlichkeiten in besagtem Haus. Bereits im Jahr darauf traten bei ihr erste Krankheitssymptome auf. Übelkeit, Kopfschmerzen, Hautausschläge, Taubheitsgefühl in den Händen, Haarausfall. Das sind exakt jene Symptome, die als Indiz für eine Bleivergiftung gelten. Als sich ihr Gesundheitszustand mit den Jahren immer weiter verschlechterte, begann Frau T., Gutachten einzuholen. Davon hat sie mittlerweile ganze Papierstöße. Und sie alle kamen zu demselben Schluss: Das Wasser, das Frau T. konsumiert, ist mit Blei kontaminiert. In einer fachlichen Beurteilung der MA 39 heißt es abschließend: „Es wird empfohlen, das in den betroffenen Leitungen abgestandene Wasser nicht für Trinkund Kochzwecke zu verwenden. Zur Aufrechterhaltung einer einwandfreien Trinkwasserqualität sind geeignete Maßnahmen erforderlich.“Deshalb wird Betroffenen in so einem Fall geraten, das Wasser eine Zeit lang laufen zu lassen und es erst dann zu verwenden.
Bei Frau T. ist die Situation dramatischer. In einem Gutachten eines gerichtlich zertifizierten Sachverständigen vom Jänner 2018 ist zu lesen: „Die Bleigehalte im Wasser zeigten keinen Abfall mit zuneh- mender Entnahme. Sie blieben über die ersten sieben Liter im Bereich von 30 Mikrogramm pro Liter und stiegen dann mit dem achten Liter auf nahezu 60 Mikrogramm pro Liter (...).“Bei einer weiteren Messung ergab der Wert nach Entnahme von einem Liter Warmwasser 173 Mikrogramm. Zum Vergleich: Der Grenzwert für den Bleigehalt in Wiener Trinkwasser liegt seit 2013 bei zehn Mikrogramm pro Liter.
Passiert ist nichts. Und Frau T. wurde immer kränker. Bis sie irgendwann nur noch 50 Kilogramm wog und ihr Immunsystem derart angegriffen war, dass sie kaum noch arbeiten konnte. 2013 berief sie sich schließlich auf ein Urteil des Obersten Gerichtshofes. Dieses besagt: „Der Mieter hat das Recht, die Miete zu reduzieren, wenn er in seiner Mietwohnung nicht mehr so wohnen kann, wie das bei Abschluss des Mietvertrages vereinbart worden ist.“
Als Frau T. begann, die Mietzahlungen zu reduzieren, reichte die Wiener Ärztekammer Klage ein. Im Zuge der Gerichtsverhandlungen sagten Zeugen aus, dass es in dem Haus zudem auch in unzumutbarem Ausmaß stank und rostbraunes Wasser aus der Leitung kam. Die Prozesse dauern immer noch an. Ein Gericht hat bereits den Auftrag zum Austausch der Leitungen erteilt. Geschehen ist aber nach wie vor nichts.
„Es ist völlig unmöglich, sämtliche Bleileitungen in einem Gründerzeithaus zu tauschen, weil man gar nicht weiß, wie sie verlaufen“, sagt Claudius Ratschew, Vorsitzender des Verwaltungsausschusses des Wohlfahrtsfonds der Wiener Ärztekammer. „Wir besitzen zehn Immobilien innerhalb des Gürtels. Die stammen allesamt aus der Gründerzeit und befinden sich in hervorragendem Zustand. Und wenn nicht, dann werden sie renoviert und restauriert.“
Dass ausgerechnet ein Kammermitglied – namentlich der Umweltmediziner Piero Lercher – in den SN betonte, Blei sei „Gift“, kommentierte Ratschew folgendermaßen: „Das ist seine persönliche Meinung.“Lercher sagte auch: „Zinshausbesitzer müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein. Sie verdienen schließlich Geld – und das darf nicht auf Kosten der Gesundheit ihrer Mieter gehen.“Ratschew betont, die Wiener Ärztekammer halte sich an alle bestehenden Gesetze. Zum Fall von Frau T. dürfe er allerdings nicht Stellung nehmen, weil es sich um ein laufendes Verfahren handle.
Apropos Frau T.: Im Jahr 2015 kapitulierte sie und zog aus. Die Tätigkeit, die sie über 27 Jahre ausübte, musste sie aufgeben. Arbeiten war einfach nicht mehr möglich. Zwölf Monate danach waren die Hautausschläge verschwunden, Frau T. hatte wieder an Gewicht zugelegt, ihre Haare waren nachgewachsen, Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück.
Dennoch war sie auch im Jahr 2016 ein halbes Jahr nicht arbeitsfähig. Denn die Schmerzen sind geblieben. Regelmäßige Spitalsaufenthalte als Folge der Bleivergiftung bestimmen bis heute den Alltag von Frau T. Gerichtstermine inklusive.