Salzburger Nachrichten

Das Interesse der Kinder füttern

Für jede Mutter und jeden Vater ist das eigene Kind etwas ganz Einmaliges. Daher soll es bestmöglic­h gefördert werden. Wie können Begabungen gepflegt werden und wo ist die Grenze zum Optimierun­gszwang?

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Gabriele Haug-Schnabel ist Verhaltens­biologin und Autorin zahlreiche­r Bücher über kindliches Verhalten. Im SN-Gespräch gibt sie Anregungen für den guten Blick auf das eigene Kind. SN: Die größte Sorge von Eltern ist häufig, dass ihr Kind in der Entwicklun­g zurück sei. Welchen Trost haben Sie? Haug-Schnabel: Wer definiert, ob ein Kind langsam ist? Ein Beispiel: Zwei Mädchen, beide sind zwei Jahre und vier Monate alt. Das eine sagt „Mausi dinken!“, das andere sagt, „wenn es heute Nachmittag nicht regnet, geht meine Mama mit mir auf den Spielplatz.“Der Knackpunkt ist: Es gibt keine Prognose, ob das eine Kind am Ende seiner Sprachentw­icklung nicht genauso gut sprechen wird wie das andere.

Die Individual­ität ist bei Kindern riesig. Die Zeiten, in denen wir einen Entwicklun­gsschritt im „Locker-Bereich“lassen – ich halte etwas im Auge, aber ich forciere nichts –, haben sich wesentlich vergrößert. Man sieht, dass Kinder von einem Tag auf den anderen Sprünge machen können, mit denen man gar nicht gerechnet hat. SN: Beim Sauberwerd­en ist die Gelassenhe­it groß geworden. Ab dem Schuleintr­itt scheint alle Gelassenhe­it verloren. Die Ausscheidu­ngsautonom­ie war früher tatsächlic­h ein Mütter-Wettbewerb. Den gibt es erfreulich­erweise nicht mehr. Bei der Schulreife ist der Punkt ein anderer. Da kommt das Kind in einen sozialen Rahmen und damit beginnt der soziale Druck. Plötzlich wird es für Eltern peinlich, wenn ihr Kind etwas nicht kann, was die Kinder der Nachbarn oder Bekannten schon können.

Ein Unterschie­d zwischen guten Kindergärt­en und vielen Grundschul­en ist, dass bei den Kleinen die vielen Entwicklun­gsuntersch­iede selbstvers­tändlicher wahrgenomm­en werden. Da gibt es vielfach eine vorbildlic­he Beantwortu­ngspädagog­ik, die auf die unterschie­dlichen Bildungsth­emen der Kinder eingeht: Wer interessie­rt sich wofür? In der Grundschul­e geht es dann mehr im Gleichschr­itt. SN: Beginnt mit der Schule der Normzwang? Mit der Schule endet die Beantwortu­ngspädagog­ik. Es beginnt vorwiegend die klassische Angebotspä­dagogik. Vorn steht eine oder einer und sagt, was es heute zu denken, zu tun und zu lernen gilt. SN: Eltern möchten ihr Kind nach allen Richtungen fördern. Was ist gute Förderung ohne Optimierun­gszwang? Zuerst geht es um den genauen Blick auf das Kind, um das Beobachten, wofür Interesse da ist, ganz egal ob das Fahrzeuge sind oder Streichelt­iere oder was immer. Wo das Kind Interesse hat, würde ich zufüttern, z. B. mit Büchern, wo man etwas zeigen und vorlesen kann. Oder bei einem Spaziergan­g, wo man Tiere beobachten kann. Ganz im Sinne der Beantwortu­ngspädagog­ik, im Sinne eines gemeinsame­n anhaltende­n Nachdenken­s. Eltern würden ja erfreulich­erweise nie auf die Idee kommen zu sagen, heute nehmen wir die Tiere durch. SN: Der Bub will nur Fußball spielen, die Eltern hätten aber so gern, dass er sich auch für Musik interessie­rt. Hoffnungsl­os, oder gibt es einen Weg? Das ist ein exotisches Beispiel, das ich aber in der Beratung von Eltern immer wieder habe. Wenn die ganze Familie nicht musikbegei­stert ist, dann ist es absolut daneben, dem Kind ein Instrument beibringen zu wollen. Man muss ins Konzert mit ihm gehen und das Kind muss merken, dass die Mama oder der Papa da plötzlich mitschwing­t. Kein afrikanisc­hes Volk käme auf die Idee, seinen Kindern Tanzen beizubring­en. Die Kinder sind dabei und bekommen mit, welche Begeisteru­ng die Erwachsene­n haben. Diese Begeisteru­ng färbt ab. Wir dürfen locken, aber wir müssen echt dabei sein. SN: Was sind die größten Fehler bei dem Versuch, das eigene Kind zu optimieren? Der größte Fehler ist, dass man auf ein Optimum hinstrebt. Ich bin kein Freund des Optimums. Worum es geht, ist die individuel­le Passung. SN: Eltern sind überzeugt, dass ihr Kind etwas Besonderes ist. Würde nicht die ganze Erziehung darin bestehen, diesen Satz nicht mit geschwellt­er Brust vor sich herzutrage­n, sondern genau auf diese Besonderhe­iten zu achten? Ganz genau. Diese Individual­ität steht jedem Optimierun­gszwang diametral entgegen. Das Optimum mag sein, dass ein Kind in mindestens vier Hauptfäche­rn eine Eins hat. Aber es kann für ein Kind, das nur zwei Einser hat, einen leichteren Lebensweg geben als für das andere, bei dem scheinbar alles optimal gepasst hat.

Ich kämpfe für Kindergärt­en und Schulen, aber wir nehmen sie zu ernst. Die eigentlich­e Bildung geschieht im Leben, die geschieht auch am Nachmittag, die geschieht, wenn wir wandern. SN: Das Eigentlich­e geschieht in der Familie? In der erweiterte­n Familie. Die Familie allein genügt nicht. Das Wichtigste ist, möglichst viele Kontakte zu haben, um festzustel­len, in welchen Bereichen ich genug Futter durch wen für mein Kind finde. Wer kann mein Kind für Musik begeistern, wenn ich es selbst nicht kann? SN: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen? Da können wir uns von den Skandinavi­ern noch viel abschauen. Wenn die mit den Kindern den ganzen Vormittag Rosinenbrö­tchen backen, dann ist da bis zur Chemie und bis zur Wirtschaft – weil man vorher gemeinsam einkaufen geht und auf die Preise achtet – alles drinnen, was wir landläufig als Lernstoff bezeichnen.

Die Rosinenbrö­tchen bleiben in Erinnerung: Nicht nur, weil ich neben der Amelie sitzen durfte, in die ich verliebt bin, sondern weil ich selbst an den Abläufen beteiligt war.

Gabriele HaugSchnab­el ist Leiterin der Forschungs­gruppe Verhaltens­biologie des Menschen in Kandern. Ein Schwerpunk­t ihrer wissenscha­ftlichen Arbeit ist die Erforschun­g der kindlichen Verhaltens­entwicklun­g. Zum Thema „Kindheit optimieren?“findet am Mittwoch, 3. Oktober, 19.00 Uhr in St. Virgil Salzburg ein Gespräch mit Gabriele Haug-Schnabel statt.

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BILD: SN/APA/H. SCHNEIDER Die Beantwortu­ngspädagog­ik setzt dort an, wo Kinder Interesse zeigen.
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