Nachricht wird zum Kulturgut
Wie überleben Zeitungen? Nach 20 Jahren als Chef von „The Guardian“erzählt Alan Rusbridger vom größten Umbruch der Zeitungsgeschichte.
Reporter sind die Bienen des weltweiten Informationssystems.
Die Chefs der „New York Times“hatten einige ihrer Kollegen zum Dinner ins Londoner Savoy Hotel eingeladen. Nach desaströsen Jahren gab es für Zeitungsmanager wenigstens einen kleinen Anlass zum Feiern. Mittlerweile fünf Jahre hatte die „New York Times“sich als Vorreiter behauptet: Gegen alle Strömungen in der digitalen Welt war es ihr gelungen, über ihre Webseite Einnahmen von Lesern zu lukrieren. Das Print-Modell von Abonnement und Einzelverkauf hatte die Hürde ins Digitale bezwungen. Die Paywall, auch Bezahl-Schranke, Premiumoder Plus-Bereich genannt, hatte sich bewährt. Dies war für die Zeitungen nach Jahren der Konkurrenz von GAFAT – Google, Apple, Facebook, Amazon und Twitter – ein erster Lichtschimmer. Auch wenn es mühsam werden sollte, dem Gratistrend im Internet zu trotzen: Viele Zeitungen sollten es der „New York Times“nachmachen und ein wenig Halt an einem überraschend stabilen Strohhalm finden. Alan Rusbridger war an diesem Abend im Herbst 2016 im Savoy dabei. Der damalige Chefredakteur der britischen Zeitung „The Guardian“erzählt jedoch wenig von Feierstimmung. Vielmehr sei über Politik und künftige Geschäftsmodelle für Zeitungen diskutiert worden, schildert er im Buch „Breaking News“, das im September im schottischen Canongate-Verlag erschienen ist, und gibt einen ausführlichen Überblick über das, was sich anfühlt wie ein Orkan, der seit etwa zehn Jahren über die Zeitungswelt tobt. Das eigentlich gesprächsreiche Dinner endete mit betretenem Schweigen, als einer fragte: Teile jemand die Sorge, dass nun, dank des Erfolgs der BezahlSchranke, 98 Prozent der US-Amerikaner vom Qualitätsjournalismus der „New York Times“ausgeschlossen seien? Alan Rusbridger spitzt diese Aussage zu: „In einer Welt von fast unbegrenzter Information wäre das Beste davon nur für die Reichsten. Der Rest von Amerika müsste mit dem Ozean von kostenlosem Zeug auskommen, einiges wahr, einiges falsch.“Hinter dieses Dilemma von Überlebenskampf versus Elite-Information setzt er die Pointe: „Dreizehn Tage nach dem Abendessen wurde Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA gewählt.“Alan Rusbridger hatte im BleisatzZeitalter als Lokaljournalist in Cambridge begonnen und kam dann zu „The Guardian“, dessen Chefredakteur und Herausgeber er von 1995 bis 2015 gewesen ist. Unter seiner Leitung entwickelte die linksliberale Tageszeitung eine der weltweit wichtigsten Nachrichten-Webseiten; zudem deckten seine Journalisten unter anderem den Telefon-Abhörskandal der britischen Murdoch-Medien auf und publizierten die ersten Dokumente von WikiLeaks. 2014 erhielt Alan Rusbridger den Alternativen Nobelpreis. Nicht nur wegen dieser für Qualitätsjournalismus essenziellen Erfolge, den Missbrauch von Macht aufzudecken, liest sich sein Bericht über vierzig Jahre im Print-Journalismus wie eine Fahrt auf der Hochschaubahn.
Die Digitalisierung bescherte dem „Guardian“binnen Kurzem nie zuvor erträumte Reichweiten, bis tief in den US-Markt. Aber damit ließen sich die drastischen Einbußen im Anzeigengeschäft nicht wettmachen. Trotzdem musste die Zeitung nun zweifach produzieren: für Print wie für Digital. Im Versuch, sich bei nicht endenden Verlusten und in den haarsträubend rasanten Änderungen bei Verbreitung und Nutzung digitaler Nachrichten zurechtzufinden, war nur klar: Alles wird anders. Aber wie? Wie das Unternehmen neu ausrichten? Was wollen die Leser? Wollen sie überhaupt noch lesen? Was überhaupt sind Nachrichten?
Die „Fake News“sollten erst nach dem Dinner im Savoy brisant werden. Doch eigentlich, so stellt Alan Rusbridger fest, ist die von Donald Trump losgetretene „FakeNews“-Debatte für Qualitätsmedien ein Glück. Denn plötzlich ist eine breite Öffentlichkeit wenigstens für eines der vielen Probleme sensibilisiert. Gefahren kommen durch falsche Nachrichten ebenso wie von miserabel aufbereiteten Nachrichten – wenn Privates marktschreierisch skandalisiert wird, wenn vereinfacht und verharmlost wird, wenn die Gegenmeinung nicht gehört wird, wenn Machtmissbrauch verschwiegen wird, wenn Propaganda ungekennzeichnet publiziert wird.
Das Großartige an diesem analysierenden Bericht ist, dass er sich der Vereinfachung widersetzt. Aus dem Trubel von „Fake News“versus Wahrheit, brüllend verhetzendem Boulevard versus abwägenden Qualitätsmedien, Algorithmen versus Verantwortung, Gratiskultur im Internet versus hohen Aufwand für journalistische Recherche zieht Alan Rusbridger eine stupende Folgerung: Nachrichten sind öffentliches Gut. Und er vergleicht Journalisten mit den Bienen: Ohne Bienen würde das Ökosystem kollabieren. „Ich fühle dasselbe bei Reportern. Reporter sind die Bienen des weltweiten Informationssystems.“
„Öffentliches Gut“heißt: Sein Nutzen ist weitverbreitet, aber er ist einzelnen Nutznießern nicht so zuzuordnen, dass dafür Preise zu erzielen sind. Oder: Preise erscheinen aus politischen Gründen als nicht angemessen – wie für Polizei, Schule und Universität. Eine Parallele ergeben da Kunst und Kultur. Diese sind teils öffentliches, teils privates Gut. Folglich sind Landestheater oder Salzburger Festspiele über Subvention wie Kartenverkauf finanziert. Und Mäzene beginnen, sich gemeinnützig zu engagieren.
Eigentlich ließe sich damit für das demokratische Kulturgut Nachricht staatliche Subvention rechtfertigen – oder steuerliche Erleichterung. Wie jedoch ist dies vorstellbar, wenn eine Regierung nur folgenlose Enqueten zu Medienpolitik veranstaltet? Wie ist dies vorstellbar, wenn Steuervorteile für GAFAT als gottgegeben gelten, während nationale Eigenheiten wie die Werbesteuer unabschaffbar sind?
Für Nachrichten als demokratisches Kulturgut gibt „The Guardian“auf seiner Webseite ein Modell vor, das auch andere Tageszeitungen bereits praktizieren: Ein Teil der Nachrichten ist frei abrufbar; zwar entstand dies aus dem Drang, in der digitalen Gratiswelt bemerkbar zu bleiben. Doch entspricht dies dem demokratischen Ideal. Ausführliche Berichte gibt es nur für „Premium Subscription“. Zudem erwähnt Alan Rusbridger Mäzenatentum für die Zeitung, etwa von der Bill & Melinda Gates Foundation für Spezialrecherchen. Aber auch damit ist nicht gewiss, ob „The Guardian“den Orkan überleben wird. Wenn nicht, so könnten Trump und Brexit der Anfang von dem sein, was Demokratien auszuhebeln vermag.
Alan Rusbridger stellt fest: Die wegen Trump lancierte Debatte um „Fake News“falle zufällig zusammen mit dem Beinahe-Kollaps des ökonomischen Modells für Journalismus. Medien, die ausgewogen informieren und Mächtige kontrollieren wollen, ringen – wie er ausführlich schildert – mit viel mehr bedrohlichen Gefahren. „Doch in einer Welt mit zu vielen Neuigkeiten haben Menschen aufgehört, dies wahrzunehmen.“
Alan Rusbridger ehem. Chefredakteur