Von Schleichwegen und Abwegen
Gezwungenermaßen schlage ich mich dieser Tage durch die Büsche, wenn ich Einkäufe erledigen oder in die Stadt muss, denn bedingt durch die Rad-WM bin ich völlig abgeschnitten von der Außenwelt: Eine Straßenquerung ist nur zu bestimmten Zeiten an sogenannten Points möglich, meine Buslinie ist eingestellt, die Autozufahrt sowieso gesperrt.
So bleibt nur ein vor Wochen akribisch ausgetüftelter Schleichweg durch nicht eingezäunte Gärten anderer Häuser, der in einen etwas gruseligen Trampelpfad durch ungepflegtes Gebüsch mündet, welcher zu einem weiteren Trampelpfad führt; es geht an der Bahntrasse entlang, bis man zu einer besonders schmalen Unterführung gelangt, bei der man sogar den Kopf einziehen muss, dann steht man nach wenigen Schritten auf dem Parkplatz eines Supermarkts. Als mir der Föhn nicht nur etwas Sand in die Augen, sondern auch eine alte Zeitung vor die Füße weht, ahne ich noch nicht, dass dies kein weiteres Ärgernis, sondern vielmehr eine Belohnung meiner Mühen ist, zumal mir dieses Ereignis einen sportlichen Gedankensprung ermöglicht: von der Rad-WM zum Schulbeginn, vom Sport zum Buchstaben, von meinem persönlichen Schleichweg zu einem bildungstechnischen Umweg. Was ich schon lange vermutet habe, wurde nämlich nun durch eine Studie bestätigt: Es schade dem Erlernen der Rechtschreibung keinesfalls, wenn man Wörter von Anfang an richtig schreibe (= direkter Weg), im Gegenteil. Mir war es immer schon ein Rätsel, was daran gut oder gar kreativ sein soll, wenn man zwei bis drei Jahre lang „Ea get“schreibt, dafür von der Lehrerin gelobt wird (Motivation!) und dann, am Ende der Volksschulzeit, auf einmal umgelenkt werden soll zur allgemein üblichen Orthografie – nachdem das lernbereite Kindergehirn die „kreative“Schreibweise bereits fest eingespeichert hat: Umwege, Schleichwege, Sackgassen, die sich einprägen wie Abkürzungen im städtischen Rasen, wenn Fußgänger und Radfahrer hartnäckig irgendwelche neunzig-Grad-winkligen Verläufe von Wegen ignorieren. Man kann Rasen nachsäen, freilich, doch das ist selten von dauerhaftem Erfolg gekrönt.
Kreativität hat nicht ursächlich mit Unordnung oder Regellosigkeit zu tun, auch wenn ein „kreativer Zugang“zu allem Möglichen und Unmöglichen heutzutage wie ein Werbebanner hochgehalten und häufig genug mit unkoordinierten und wenig zielführenden Methoden zur Erzeugung von möglichst vielen (wirtschaftlich verwertbaren) Geistesblitzen verwechselt wird. Möchte ich von A nach B, ist eine möglichst direkte Linie keine schlechte Idee, und gutes Werkzeug bzw. sicher beherrschte Technik weiß von der Bildhauerin hin zum RadWM-Teilnehmer jeder zu schätzen. Lustvoll hingegen ist bewusstes Abweichen, zielloses Umherstreifen auf der Suche nach Neuem, aber dann habe ich auch keinen Punkt, auf den ich hinsteuere. Es ist ein bisschen so wie bei der Schulkind-Motivation im Rechenbuch, „Zeichnen nach Zahlen“: Funktioniert nur, wenn man den Bleistift direkt von Punkt 27 zu Punkt 28 führt. Ist Punkt 27 einigermaßen weit von Punkt 28 entfernt, ist eine zielgerichtete Linienführung gefordert, soll aus dem Schweinchen kein Stachelschwein und aus der Ente kein Nashorn werden. Merkwürdigerweise gibt es für solch abweichende Ergebnisse nämlich kein Lob von der Lehrerin, aber kreativ ist so eine Stachelschweinlösung allemal. Carolina Schutti