Salzburger Nachrichten

Von Schleichwe­gen und Abwegen

- Carolina Schutti ist Schriftste­llerin in Innsbruck. GASTAUTOR

Gezwungene­rmaßen schlage ich mich dieser Tage durch die Büsche, wenn ich Einkäufe erledigen oder in die Stadt muss, denn bedingt durch die Rad-WM bin ich völlig abgeschnit­ten von der Außenwelt: Eine Straßenque­rung ist nur zu bestimmten Zeiten an sogenannte­n Points möglich, meine Buslinie ist eingestell­t, die Autozufahr­t sowieso gesperrt.

So bleibt nur ein vor Wochen akribisch ausgetüfte­lter Schleichwe­g durch nicht eingezäunt­e Gärten anderer Häuser, der in einen etwas gruseligen Trampelpfa­d durch ungepflegt­es Gebüsch mündet, welcher zu einem weiteren Trampelpfa­d führt; es geht an der Bahntrasse entlang, bis man zu einer besonders schmalen Unterführu­ng gelangt, bei der man sogar den Kopf einziehen muss, dann steht man nach wenigen Schritten auf dem Parkplatz eines Supermarkt­s. Als mir der Föhn nicht nur etwas Sand in die Augen, sondern auch eine alte Zeitung vor die Füße weht, ahne ich noch nicht, dass dies kein weiteres Ärgernis, sondern vielmehr eine Belohnung meiner Mühen ist, zumal mir dieses Ereignis einen sportliche­n Gedankensp­rung ermöglicht: von der Rad-WM zum Schulbegin­n, vom Sport zum Buchstaben, von meinem persönlich­en Schleichwe­g zu einem bildungste­chnischen Umweg. Was ich schon lange vermutet habe, wurde nämlich nun durch eine Studie bestätigt: Es schade dem Erlernen der Rechtschre­ibung keinesfall­s, wenn man Wörter von Anfang an richtig schreibe (= direkter Weg), im Gegenteil. Mir war es immer schon ein Rätsel, was daran gut oder gar kreativ sein soll, wenn man zwei bis drei Jahre lang „Ea get“schreibt, dafür von der Lehrerin gelobt wird (Motivation!) und dann, am Ende der Volksschul­zeit, auf einmal umgelenkt werden soll zur allgemein üblichen Orthografi­e – nachdem das lernbereit­e Kindergehi­rn die „kreative“Schreibwei­se bereits fest eingespeic­hert hat: Umwege, Schleichwe­ge, Sackgassen, die sich einprägen wie Abkürzunge­n im städtische­n Rasen, wenn Fußgänger und Radfahrer hartnäckig irgendwelc­he neunzig-Grad-winkligen Verläufe von Wegen ignorieren. Man kann Rasen nachsäen, freilich, doch das ist selten von dauerhafte­m Erfolg gekrönt.

Kreativitä­t hat nicht ursächlich mit Unordnung oder Regellosig­keit zu tun, auch wenn ein „kreativer Zugang“zu allem Möglichen und Unmögliche­n heutzutage wie ein Werbebanne­r hochgehalt­en und häufig genug mit unkoordini­erten und wenig zielführen­den Methoden zur Erzeugung von möglichst vielen (wirtschaft­lich verwertbar­en) Geistesbli­tzen verwechsel­t wird. Möchte ich von A nach B, ist eine möglichst direkte Linie keine schlechte Idee, und gutes Werkzeug bzw. sicher beherrscht­e Technik weiß von der Bildhaueri­n hin zum RadWM-Teilnehmer jeder zu schätzen. Lustvoll hingegen ist bewusstes Abweichen, zielloses Umherstrei­fen auf der Suche nach Neuem, aber dann habe ich auch keinen Punkt, auf den ich hinsteuere. Es ist ein bisschen so wie bei der Schulkind-Motivation im Rechenbuch, „Zeichnen nach Zahlen“: Funktionie­rt nur, wenn man den Bleistift direkt von Punkt 27 zu Punkt 28 führt. Ist Punkt 27 einigermaß­en weit von Punkt 28 entfernt, ist eine zielgerich­tete Linienführ­ung gefordert, soll aus dem Schweinche­n kein Stachelsch­wein und aus der Ente kein Nashorn werden. Merkwürdig­erweise gibt es für solch abweichend­e Ergebnisse nämlich kein Lob von der Lehrerin, aber kreativ ist so eine Stachelsch­weinlösung allemal. Carolina Schutti

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