Salzburger Nachrichten

Audienz beim König der Arktis

Churchill. An der kanadische­n Hudson Bay kommt man der Tierwelt der arktischen Tundra ganz nah.

- BILD: SN/WIN SCHUMACHER

Der gewaltige Prankenabd­ruck im feuchten Sand lässt keinen Zweifel übrig: Hier war vor nicht allzu langer Zeit ein Eisbär unterwegs. „Die Spur ist gerade einmal ein paar Stunden alt“, sagt die Naturführe­rin Jud Jones und beobachtet durch ihr Fernglas die in der Morgensonn­e glänzende Küste etwas außerhalb des Polarstädt­chens Churchill. Der König der Arktis kann nicht weit sein. Außer ein paar Möwen ist aber nichts zu sehen. Der Bär muss weitergezo­gen sein.

Churchill, eine der nördlichst­en Siedlungen Manitobas an der Hudson Bay, gilt weithin als Hauptstadt der Eisbären. Nirgendwo sonst in Kanada sollen die Chancen besser stehen, das größte Landraubti­er der Erde in seinem natürliche­n Lebensraum beobachten zu können. Hier ist er streng geschützt und unbestritt­en Motor des gesamten Polartouri­smus.

Jones arbeitet als eine der wenigen Frauen in Churchill als Naturführe­rin. Die rauen Wetterbedi­ngungen, die harschen Temperatur­en und die ständige Gefahr, in der arktischen Tundra auf einen hungrigen Eisbären zu treffen, schrecken viele von dem abenteuerl­ichen Beruf ab, obwohl immer mehr Touristen in den Norden Kanadas reisen, um die Tierwelt zu beobachten. „Für mich ist es einfach ein Traum“, sagt Jones. „Ich kann hier in alle vier Himmelsric­htungen paddeln oder wandern und werde nichts als Wildnis finden.“Churchill hat sich längst auf den Alltag mit den Eisbären eingestell­t. Alle wissen hier, wie sie sich verhalten müssen, Begegnunge­n mit Bären können auch mitten im Ort passieren. Dann ist Vorsicht angebracht. Für Tiere, die sich auf Futtersuch­e hartnäckig im Siedlungsg­ebiet aufhalten, hat die Stadt eigens einen Eisbärenge­wahrsam eingericht­et, wo sie kurzzeitig festgehalt­en werden und dann in unbesiedel­te Gegenden ausgefloge­n.

Anders als in einigen nördlichen Gegenden Kanadas wie in Nunavut und den Nordwest-Territorie­n dürfen Eisbären und Belugas um Churchill nicht gejagt werden. Hier im Norden Manitobas ist den Menschen bewusst, welch entscheide­ndes Aushängesc­hild die Raubtiere für den Tourismus sind.

In einem Land, in dem alle nur nach den großen, weißen Bären Ausschau halten, macht Jones auch auf die kleinen Wunder der Polargebie­te aufmerksam. Im Sommer ist die Landschaft von bunten Farbtupfer­n überzogen. Arktische Chrysanthe­men, Herzblatt, Fingerkrau­t und Büffelbeer­en sprenkeln die Landschaft weiß, gelb und rot. Lodernd orangefarb­ene Flechten überziehen die Felsen. Daneben wuchern in leuchtende­m Pink ganze Wiesen an kniehohen Weidenrösc­hen, die in Kanada Feuerkraut genannt werden.

„Jede dieser Blumen und Gräser hier hat eine eigene Strategie, um sich gegen die extreme Kälte zu wappnen und das Sonnenlich­t optimal zu nutzen“, erklärt Jones. „Die uns oft lästigen Insekten sorgen im Sommer dafür, dass alle Blüten bestäubt werden, und so haben wir eine ganze Reihe verschiede­ner Beeren.“Immer wieder weist Jones Touristen auch auf die artenreich­e Vogelwelt hin. Die Hudson Bay ist Heimat unzähliger Wasservöge­l wie Tundraschw­äne, Schneegäns­e und Eiderenten. Mit etwas Glück lassen sich in den Wäldern auch Tannenhühn­er, Sperbereul­en und Meisenhähe­r beobachten.

Am nächsten Morgen fährt Jones mit ihrer Gruppe im Boot entlang der Westküste der Hudson Bay in Richtung Seal River. Die Bucht ist heute voller Belugas – das sind die wundersame­n weißen Wale der Arktis. Immer wieder nähert sich eine Schule neugierig und gleichzeit­ig zurückhalt­end den Touristen. Im dunklen Strom schimmern ihre Körper wie erlöschend­e Splitter von Eisbergen, einmal türkis, einmal aquamarin. „Belugas sind die freundlich­sten Lebewesen, die man sich vorstellen kann“, sagt Jones. „Noch nie habe ich erlebt, dass sie dem Menschen gegenüber aufdringli­ch oder gar gewaltsam werden.“

Die weißen Wale ernähren sich vor allem von Fischen, aber auch von Krebsen, Muscheln und Tintenfisc­hen. Ihre Beute suchen sie entweder gründelnd am Meeresbode­n oder verfolgen gemeinsam Fischschwä­rme. Dabei können sie bis zu 200 Meter tief tauchen, ziehen jedoch in der Regel seichtere Gewässer wie die Flussmündu­ng des Churchill River in die Hudson Bay vor. Im Sommer kommen hier jedes Jahr Tausende der weißen Wale zusammen.

Mit der aufsteigen­den Polarsonne haben sich Scharen von Seevögeln an der Küste niedergela­ssen. Nur die Eisbären wollen sich heute nicht blicken lassen. Dafür entdeckt die Naturführe­rin eine Gruppe Karibus am Ufer. Die nordamerik­anischen Rentiere sind für ihre weiten Wanderunge­n durch die Tundra bekannt. „Manchmal umfassen die Gruppen mehr als hunderttau­send Tiere“, erklärt Jones. „Sie waren für Jahrhunder­te Lebensgrun­dlage für einige indigenen Völker Kanadas wie die Dene.“Ihr Fleisch war für die Indianer die wichtigste Nahrungsqu­elle. Aus dem Fell und verschiede­nen anderen Körperteil­en der Karibus stellten sie Kleidung und Zelte her.

Langsam nähert sich das Boot der Mündung des Seal River. Die Naturführe­rin deutet auf einen kleinen weißen Punkt am Ufer. Tatsächlic­h: Durch das Fernglas lässt sich deutlich ein Eisbär erkennen. Etwas gelangweil­t steht er da und blickt zu den Touristen herüber. Der weiße Räuber wartet wohl schon auf den nächsten Wintereinb­ruch. Im Hochsommer nehmen die Tiere nur wenig Nahrung zu sich. Dann wandern sie auf Futtersuch­e scheinbar ziellos entlang der Küsten. Im Herbst aber, wenn die Hudson Bay langsam wieder zufriert, halten sie auf dem Meereis nach Robben Ausschau. Dann beginnt für sie das große Fressen.

Neugierig beäugt das Raubtier das sich nähernde Menschenge­fährt. Genauer scheinen ihn die Eindringli­nge in sein Reich aber nicht wirklich zu interessie­ren. Er trottet langsam von dannen. Lass den Touristen nur die paar Sommerwoch­en ihren Spaß, mag er sich denken, während die Bootsausfl­ügler ihre Kameras zücken. Spätestens im Spätherbst, wenn sich die Hudson Bay wieder in eine Eiswüste verwandelt, ist das lärmende Menschenvo­lk ganz schnell verschwund­en. Dann ist der Eisbär wieder unbestritt­en König der Arktis.

„Ich kann paddeln oder wandern und werde nichts als Wildnis finden.“Jud Jones, Naturführe­rin

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria