Kaiser Karl früher gehandelt hätte?
Im Herbst 1918 endete die 640-jährige Geschichte des Hauses Habsburg. Hätte der letzte Kaiser das Ruder noch herumreißen können?
In den letzten Kriegstagen des Jahres 1918 startet Kaiser Karl einen letzten, verzweifelten Versuch: Am 16. Oktober erlässt er sein Völkermanifest. Es soll den totalen Zerfall der Monarchie verhindern und das Vielvölkerreich Österreich in einen Bund freier, selbstständiger Nationen umwandeln. Doch der junge Kaiser findet kein Gehör, der Zerfall der Monarchie ist nicht mehr zu verhindern. Tschechen, Slowaken, Ungarn, Polen, Serben, Kroaten und Slowenen sagen sich los. Am 11. November verzichtet Karl in einer Erklärung „auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften“. Es ist das Ende von 640 Jahren Habsburger-Herrschaft.
Musste das so kommen? Oder hätte Karl das Haus Habsburg auf dem Thron halten können, wenn er früher gehandelt hätte?
Kaiser Franz Joseph war im November 1916 gestorben. Hätte Karl gleich zu Beginn seiner Regentschaft, also um 1916/17, ein Reformprogramm gestartet, dann hätte er zumindest eine Chance gehabt, sagt der Historiker und Habsburger-Spezialist Karl Vocelka. Zwar wäre ein früherer Erlass des Völkermanifests, also im Jahr 1917, vermutlich auch schon zu spät gewesen. „Aber das wäre zu diesem Zeitpunkt noch gescheiter gewesen als in der allerletzten Minute, wo der Karren, auf Wienerisch gesagt, schon im Dreck gelegen ist.“Karl hatte also nicht viel Zeit – im Gegensatz zu seinem Vorgänger Franz Joseph, der immerhin mit 68 Regierungsjahren der längstdienende Herrscher des Hauses Habsburg war. Der „ewige Kaiser“nutzte diese lange Zeit allerdings nicht, um dem im 19. Jahrhundert aufkommenden Nationalismus zu begegnen und die Probleme unter den Völkern zu lösen. „Vielleicht wäre in der Zeit nach 1848, also in der beginnenden Herrschaft Franz Josephs, noch eine Möglichkeit gegeben gewesen, die Monarchie zu retten“, sagt Vocelka. Zwei Dinge wären dafür notwendig gewesen: „Eine moderne Verfassung, die auch in der Realität verwirklicht worden wäre, und ein föderalistisches System, das eine Gleichberechtigung der Nationen gewährleistet hätte.“Einzig den Ungarn kam Franz Joseph – notgedrungen – mit dem Ausgleich von 1867 entgegen. Ansonsten zeigte Franz Joseph kein Verständnis für die Anliegen der Nationalitäten. Sein Nachfolger Karl stand nicht nur vor einem Berg ungelöster Probleme – er brachte auch nicht die charakterlichen Voraussetzungen mit, um das Steuer in letzter Minute noch herumzureißen. Karl war mit seinem Amt schlicht überfordert, er hat gezögert und gezaudert. In den Worten seiner Biografin, der Historikerin Katrin Unterreiner: „Er war der falsche Mann zu dieser Zeit.“
Die mangelnde Standhaftigkeit war nicht allein Karls Verschulden. Auch in diesem Punkt trifft seinen Vorgänger und Großonkel Franz Joseph eine Mitschuld. Dieser hat es verabsäumt, seinen Nachfolger auf die schwierigen Regierungsgeschäfte vorzubereiten. Nach der Ermordung von Thronfolger Franz Ferdinand 1914 hätte Franz Joseph für die „Einschulungsphase“immerhin zwei Jahre Zeit gehabt, sagt Unterreiner. „Um seinen Großneffen hat er sich aber überhaupt nicht gekümmert.“Dieser wiederum habe sich nicht besonders engagiert. „Als er auf den Thron kam, war er sehr unsicher und nervös. Er hatte im Grunde genommen keine Ahnung davon, wie die K.-u.-k.-Monarchie funktioniert. Er hat vielleicht den Willen gehabt, etwas zu verändern, aber er hat nichts unternommen.“Das nötige politische Geschick ließ er vermissen. Karl unterstützte die kompromisslose Politik des „Siegfriedens“der Deutschen. Sein zögerlicher Versuch, die Friedensfühler auszustrecken, endete in einem Fiasko. Seine Geheimverhandlungen mit Frankreich wurden im April 1918 publik, Karl war blamiert, seine Glaubwürdigkeit am Ende.
Hätte ein anderer Habsburger die Monarchie noch retten können? Wohl kaum. Die nationalen Bestrebungen nach Eigenständigkeit waren zu weit fortgeschritten. „Ich bin sehr skeptisch, ob es da irgendjemanden hätte geben können, der das so unter einer Krone hätte vereinen können, dass alle zufrieden gewesen wären“, sagt Unterreiner. „Diese starke Persönlichkeit gab es bei den Habsburgern einfach nicht mehr.“