Hilfe für Opfer: Mehr als eine Geste der Verantwortung
Vom Geldtaschendiebstahl über Missbrauch bis Mord: Seit 40 Jahren setzt sich der Weisse Ring für Opfer ein. Warum Betroffene nach Verbrechen nicht alleingelassen werden dürfen.
Er hat Natascha Kampusch rechtlich beraten und auch die Familie F., die jahrelang vom Vater in einem niederösterreichischen Keller eingesperrt und teils schwer sexuell missbraucht worden ist: Udo Jesionek ist Gründervater, Präsident und Gesicht der Opferschutzeinrichtung Weisser Ring, die in diesen Tagen in Österreich ihr 40-Jahr-Jubiläum feiert. „Im Jänner 1978 ist der Weisse Ring in Österreich gegründet worden, im Dezember das erste Frauenhaus. Die plötzliche Entdeckung des Opfers ist sehr, sehr spät gekommen“, sagt der 81-Jährige. Er beklagt, dass Opfer im Strafrecht bis dahin maximal als Zeugen gesehen wurden, aber nicht als Menschen, denen Verbrechen auch psychisch schweren Schaden zufügen können.
„Opfer leiden oft ein Leben lang unter den erlebten Straftaten. Deshalb ist rasche und kompetente Hilfe und Begleitung während eines Strafverfahrens ungemein wichtig. Nicht zuletzt aufgrund der Arbeit von Opferschutzeinrichtungen wie dem Weissen Ring ist Österreich darin europaweit Vorreiter“, sagte Staatssekretärin Karoline Edtstadler (ÖVP) am Freitag den SN.
Auf weitere Unterstützung hofft auch Udo Jesionek: Er will von der Polizei Namen und Daten von Opfern bekommen, damit der Weisse Ring Menschen nach einem schweren Verbrechen Hilfe anbieten kann. Gewaltschutzzentren erhalten diese Informationen bereits.
Edtstadler plant vorerst jedoch in die andere Richtung: In Notfällen will sie die Daten von Tätern automatisch an Hilfsstellen weiterleiten lassen. „Die ,Taskforce Strafrecht‘ arbeitet noch an der Umsetzung eines konkreten Gesetzesvorschlags. Der Datenschutz von Menschen, die gewalttätig geworden sind, ist etwas sehr Sensibles“, erklärt ihr Sprecher Eberhard Blumenthal.
Rund ein Jahr nach der #MeTooDebatte begrüßt Weisser-Ring-Präsident Udo Jesionek, dass „immer mehr Opfer aus der Dunkelziffer ins Licht treten“. Missbrauch sei bis dahin oft bagatellisiert worden, nun müsse jeder Täter mit einer Anzeige rechnen. Dennoch vermutet der 81-Jährige, dass viel zu viele Sexualdelikte, gerade innerhalb von Familien, weiter unter den Teppich gekehrt werden.
Mit Blick auf die vergangenen vier Jahrzehnte berichtet Jesionek, früher Präsident des Jugendgerichtshofs Wien, dass Verbrechen in Österreich jedenfalls brutaler geworden seien. Das führt er auch auf eine Internationalisierung des Verbrechens zurück. „Ein Einbrecher hatte früher keine Waffe, weil er wusste, dass das streng bestraft wird. Heute haben viele ein Messer oder gar eine Schusswaffe dabei.“
Er kritisiert auch, dass sich die Fälle häufen, in den es keinen Zusammenhang zwischen Täter und Opfer gibt. Als einprägsames Beispiel nennt er den Mord am Brunnenmarkt, bei dem im Mai 2016 ein Mann einer ihm unbekannten Frau mit einer Eisenstange den Schädel eingeschlagen hat. „Der Umgang miteinander ist härter geworden.“
Wer Opfer oder Zeuge eines Gewaltverbrechens wird, bekommt diese Bilder mitunter nicht mehr aus dem Gedächtnis. „Deshalb ist es wichtig, dass Fachkräfte unbürokratisch zur Verfügung stehen“, erklärt der Wiener Psychologe Cornel Binder-Krieglstein. Als Sanitäter und in Kriseninterventionsteams habe er viele Menschen in psychisch traumatisierenden Situationen erlebt – bei Unfällen etwa. Danach müsse man schauen, was ein solches Erlebnis in der Psyche eines Menschen auslöse. „Wenn die Belastung so groß ist, dass sie krankhaft wird, müssen Profis handeln“, sagt Binder-Krieglstein.
Neben der professionellen Betreuung sei aber auch die soziale wichtig – durch viele Gespräche mit Familie oder Freunden.
„Opfer treten aus der Dunkelziffer.“Udo Jesionek, Weisser Ring