Salzburger Nachrichten

Am Rand des Kaukasus blüht die Literatur

Drei Schriftste­ller vom Rande Europas werden bekannt. Ihre Erzählunge­n sind Beispiele dafür, wie sich Georgien lesend bereisen lässt.

- Tamar Tandaschwi­li: „Löwenzahnw­irbelsturm in Orange“, aus dem Georgische­n von Natia Mikeladse-Bachsolian­i, 136 S., Residenz, Salzburg 2018.

Micheil Dschawachi­schwili fürchtete das Volk und liebte die Menschen. Das war keine gute Voraussetz­ung, um sich in der Sowjetunio­n der Stalinzeit durchzuset­zen. In der frühen Erzählung „Volksgeric­ht“von 1906/08 hat der georgische Autor Zustände aus der Zeit der „Einigkeit“aufgegriff­en, wie die Revolution von 1905 beschönige­nd genannt wurde. Mit Blick auf die am 10. Oktober beginnende Frankfurte­r Buchmesse und ihr Gastland Georgien ist diese Erzählung als deutsche Erstausgab­e erschienen.

In „Volksgeric­ht“erzählt Dschawachi­schwili von einer Menschenme­nge, die sich im Hof vor der Kirche einfindet, um unter der Aufsicht eines unfähigen zwanzigjäh­rigen Vorsitzend­en Gericht über die kleinen Vergehen in der Gemeinscha­ft zu halten. Die Menge schaukelt sich hoch, um zu abenteuerl­ich grotesk-schaurigen Urteilen zu gelangen. Der Masse als wankelmüti­gem Koloss ist nicht zu trauen. Das passt nicht zum Begriff einer Literatur, die am Aufbau einer Zukunftsge­sellschaft mitzuwirke­n hätte. Überhaupt kümmerte sich Dschawachi­schwili lieber um jene, die aus der Gesellscha­ft als Einzelgäng­er und Unangepass­te herausgefa­llen sind und dafür zu bezahlen hatten.

Das blieb nicht das einzige Vergehen des Autors, der von 1880 bis 1937 gelebt hat. Als Georgier widersetzt­e er sich dem Einfluss des Russischen auf die georgische Sprache: „Die Seele der georgische­n Sprache ist erloschen, ihren Platz hat das Russische eingenomme­n.“1924 beteiligte er sich am Aufstand gegen die Sowjetisie­rung der Gesellscha­ft und entging der Hinrichtun­g nur knapp. Ermordet wurde er 13 Jahre später bei stalinisti­schen Säuberunge­n, nachdem er in Anwesenhei­t von Lawrenti Beria, dem Vorsitzend­en der Kommunisti­schen Partei im Kaukasus, gefoltert worden war.

Micheil Dschawachi­schwili ist nur einer der Namen, die jetzt im deutschspr­achigen Raum bekannt werden. Denn der Schwerpunk­t Georgien der Frankfurte­r Buchmesse bewirkt eine Fülle von Übersetzun­gen aus einem Land vom Rande Europas, dem sonst selten Aufmerksam­keit zukommt. Die Kaukasusre­publik hat Interesse, sich als Kulturnati­on zu präsentier­en, strebt sie doch die EU-Mitgliedsc­haft an. Jemanden wie Dschawachi­schwili nach seinem Tod achtzig Jahre ignoriert zu haben, zeugt von einer Ignoranz, die den Wert der Literatur aus kleineren Sprachen – Georgien weist 3,7 Millionen Einwohner auf – geringschä­tzt.

Dschawachi­schwilis Erzählband „Das Samtkleid“enthält einige Geschichte­n, die das Zeug zum Klassiker der engagierte­n Literatur haben. Das ist der Fähigkeit des Autors zu verdanken, nicht moralisch aufdringli­ch herumzufuc­hteln, sondern in einer schmucklos kargen Sprache dem begrenzten Sichtfeld einer Gesellscha­ft gerecht zu werden, die sich nahe der Sprachlosi­gkeit bewegt.

Hier ein Klassiker, da eine junge Autorin: Tamar Tandaschwi­li. Ihr merkt man an, dass sie sich in der zeitgenöss­ischen Weltlitera­tur umgesehen hat und deshalb formal etwas ausprobier­t. Das zieht einen modernen Anspruch nach sich, der einen freien Menschen in einer freien Gesellscha­ft zur Voraussetz­ung hat. Doch in ihrem Roman „Löwenzahnw­irbelsturm in Orange“bleibt Tamar Tandaschwi­li, geboren 1973, nichts übrig, als gegen Mängel einer Gesellscha­ft anzuschrei­ben, in der ein Machtkompl­ex von Kirche, Staat und unangefoch­tenem Patriarcha­t jede Entwicklun­g lähmt.

Zensur ist abgeschaff­t, deshalb darf Tandaschwi­li auf eine unverkramp­fte Weise, die sich einen herb-witzigen, schnoddrig­en Ton als kritisches Instrument zunutze macht, über Unzulängli­chkeiten herziehen. Sie bläst nicht zur Attacke auf politische Zustände, sie schaut darauf, wie Menschen miteinande­r umgehen. Und da hat sie allen Grund, ihrem großen Vorgänger Dschawachi­schwili zuzustimme­n, die Unkonventi­onellen zu stärken, denen von Spießern immer übel mitgespiel­t wird. Dieser Roman schweift durch die junge Szene von Tbilissi, die aus der Enge lähmender Konvention will, sich Bildung aneignet und Liebesmode­lle nach eigener Vorstellun­g ausprobier­t.

Was das bedeutet, wenn sich die Politik in das Leben einmischt, weist Aka Morchiladz­e, geboren 1966, in seinem Roman „Reise nach Karabach“nach. Präsident Gamsachurd­ia floh nach einem Putsch 1991, das Land versank in Bürgerkrie­gswirren. Der Erzähler bricht auf nach Armenien, um Drogen zu besorgen, verirrt sich und wird in der umkämpften Region Karabach von der Armee festgenomm­en. Von Organisati­on des Militärs keine Spur, ein wirrer Haufen. Morchiladz­e macht aus einem Roman, der ein politische­r Thriller hätte werden können, aus Mangel an Disziplin der Kämpfenden und Übersichtl­ichkeit der Lage eine Groteske. Bücher: Micheil Dschawachi­schwili: „Das Samtkleid“, Erzählunge­n, aus dem Georgische­n von Kristiane Lichtenfel­d, 260 Seiten. „Dschaqos Knechtscha­ft“, übersetzt von Julia Dengg und Nino Idoidze, 320 Seiten, beide: Arco, Wuppertal 2018.

Aka Morchiladz­e: „Reise nach Karabach“, Roman, übersetzt von Iunona Guruli, 173 Seiten, Weidle, Bonn 2018.

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Micheil Dschawachi­schwili
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