Am Rand des Kaukasus blüht die Literatur
Drei Schriftsteller vom Rande Europas werden bekannt. Ihre Erzählungen sind Beispiele dafür, wie sich Georgien lesend bereisen lässt.
Micheil Dschawachischwili fürchtete das Volk und liebte die Menschen. Das war keine gute Voraussetzung, um sich in der Sowjetunion der Stalinzeit durchzusetzen. In der frühen Erzählung „Volksgericht“von 1906/08 hat der georgische Autor Zustände aus der Zeit der „Einigkeit“aufgegriffen, wie die Revolution von 1905 beschönigend genannt wurde. Mit Blick auf die am 10. Oktober beginnende Frankfurter Buchmesse und ihr Gastland Georgien ist diese Erzählung als deutsche Erstausgabe erschienen.
In „Volksgericht“erzählt Dschawachischwili von einer Menschenmenge, die sich im Hof vor der Kirche einfindet, um unter der Aufsicht eines unfähigen zwanzigjährigen Vorsitzenden Gericht über die kleinen Vergehen in der Gemeinschaft zu halten. Die Menge schaukelt sich hoch, um zu abenteuerlich grotesk-schaurigen Urteilen zu gelangen. Der Masse als wankelmütigem Koloss ist nicht zu trauen. Das passt nicht zum Begriff einer Literatur, die am Aufbau einer Zukunftsgesellschaft mitzuwirken hätte. Überhaupt kümmerte sich Dschawachischwili lieber um jene, die aus der Gesellschaft als Einzelgänger und Unangepasste herausgefallen sind und dafür zu bezahlen hatten.
Das blieb nicht das einzige Vergehen des Autors, der von 1880 bis 1937 gelebt hat. Als Georgier widersetzte er sich dem Einfluss des Russischen auf die georgische Sprache: „Die Seele der georgischen Sprache ist erloschen, ihren Platz hat das Russische eingenommen.“1924 beteiligte er sich am Aufstand gegen die Sowjetisierung der Gesellschaft und entging der Hinrichtung nur knapp. Ermordet wurde er 13 Jahre später bei stalinistischen Säuberungen, nachdem er in Anwesenheit von Lawrenti Beria, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei im Kaukasus, gefoltert worden war.
Micheil Dschawachischwili ist nur einer der Namen, die jetzt im deutschsprachigen Raum bekannt werden. Denn der Schwerpunkt Georgien der Frankfurter Buchmesse bewirkt eine Fülle von Übersetzungen aus einem Land vom Rande Europas, dem sonst selten Aufmerksamkeit zukommt. Die Kaukasusrepublik hat Interesse, sich als Kulturnation zu präsentieren, strebt sie doch die EU-Mitgliedschaft an. Jemanden wie Dschawachischwili nach seinem Tod achtzig Jahre ignoriert zu haben, zeugt von einer Ignoranz, die den Wert der Literatur aus kleineren Sprachen – Georgien weist 3,7 Millionen Einwohner auf – geringschätzt.
Dschawachischwilis Erzählband „Das Samtkleid“enthält einige Geschichten, die das Zeug zum Klassiker der engagierten Literatur haben. Das ist der Fähigkeit des Autors zu verdanken, nicht moralisch aufdringlich herumzufuchteln, sondern in einer schmucklos kargen Sprache dem begrenzten Sichtfeld einer Gesellschaft gerecht zu werden, die sich nahe der Sprachlosigkeit bewegt.
Hier ein Klassiker, da eine junge Autorin: Tamar Tandaschwili. Ihr merkt man an, dass sie sich in der zeitgenössischen Weltliteratur umgesehen hat und deshalb formal etwas ausprobiert. Das zieht einen modernen Anspruch nach sich, der einen freien Menschen in einer freien Gesellschaft zur Voraussetzung hat. Doch in ihrem Roman „Löwenzahnwirbelsturm in Orange“bleibt Tamar Tandaschwili, geboren 1973, nichts übrig, als gegen Mängel einer Gesellschaft anzuschreiben, in der ein Machtkomplex von Kirche, Staat und unangefochtenem Patriarchat jede Entwicklung lähmt.
Zensur ist abgeschafft, deshalb darf Tandaschwili auf eine unverkrampfte Weise, die sich einen herb-witzigen, schnoddrigen Ton als kritisches Instrument zunutze macht, über Unzulänglichkeiten herziehen. Sie bläst nicht zur Attacke auf politische Zustände, sie schaut darauf, wie Menschen miteinander umgehen. Und da hat sie allen Grund, ihrem großen Vorgänger Dschawachischwili zuzustimmen, die Unkonventionellen zu stärken, denen von Spießern immer übel mitgespielt wird. Dieser Roman schweift durch die junge Szene von Tbilissi, die aus der Enge lähmender Konvention will, sich Bildung aneignet und Liebesmodelle nach eigener Vorstellung ausprobiert.
Was das bedeutet, wenn sich die Politik in das Leben einmischt, weist Aka Morchiladze, geboren 1966, in seinem Roman „Reise nach Karabach“nach. Präsident Gamsachurdia floh nach einem Putsch 1991, das Land versank in Bürgerkriegswirren. Der Erzähler bricht auf nach Armenien, um Drogen zu besorgen, verirrt sich und wird in der umkämpften Region Karabach von der Armee festgenommen. Von Organisation des Militärs keine Spur, ein wirrer Haufen. Morchiladze macht aus einem Roman, der ein politischer Thriller hätte werden können, aus Mangel an Disziplin der Kämpfenden und Übersichtlichkeit der Lage eine Groteske. Bücher: Micheil Dschawachischwili: „Das Samtkleid“, Erzählungen, aus dem Georgischen von Kristiane Lichtenfeld, 260 Seiten. „Dschaqos Knechtschaft“, übersetzt von Julia Dengg und Nino Idoidze, 320 Seiten, beide: Arco, Wuppertal 2018.
Aka Morchiladze: „Reise nach Karabach“, Roman, übersetzt von Iunona Guruli, 173 Seiten, Weidle, Bonn 2018.