Salzburger Nachrichten

Ämter „auf Lebenszeit“sind ziemlich aus der Zeit gefallen

Was einst als Anker der Stabilität erfunden wurde, hat Schattense­iten und entwickelt sich zum Hindernis moderner Politik.

- VIKTOR.HERMANN@SN.AT

Die heftig umstritten­e Bestellung eines Richters am Supreme Court der USA lenkt, neben dem Streit um dessen Verhalten in der Vergangenh­eit, die Aufmerksam­keit auf einen Umstand, der nicht nur mit der politische­n Ausrichtun­g des Mannes zu tun hat. Die Richter werden „auf Lebenszeit“bestellt, was bedeutet, dass sie selbst entscheide­n, wann sie sich für zu alt, zu krank oder zu müde halten, um dieses Amt auszuüben. Das heißt aber auch, dass Brett Kavanaugh noch lange Höchstrich­ter sein wird, wenn über dem Krawallprä­sidenten Donald Trump schon längst der gnädige Vorhang des Vergessens liegen wird.

„Auf Lebenszeit“wurde für dieses Amt erfunden, als die Lebenszeit viel knapper bemessen war, als sie es heute ist. Der Vorteil damals: Eine über die Amtszeit des ernennende­n Präsidente­n hinausgehe­nde Stabilität in der Beurteilun­g verfassung­srechtlich­er Fragen. Der Nachteil heute: Menschen in hohem Alter, denen womöglich das Gefühl für und die Einsicht in modernere Lebensumst­ände abhandenge­kommen sind, krallen sich mit ihren Entscheidu­ngen an der Vergangenh­eit fest, statt aktuelle Lebensumst­ände zu berücksich­tigen. Im schlimmste­n Fall kann ein Richter noch jahrzehnte­lang Urteile fällen, die der Lebenswirk­lichkeit ganzer Generation­en widersprec­hen. Krassestes Beispiel dafür ist die Entscheidu­ng des Supreme Court 1857, Schwarzen aus rassistisc­hen Gründen grundsätzl­ich Bürgerrech­te abzusprech­en.

Die auf eine Art „eingeschrä­nkte Ewigkeit“angelegte Praxis, Ämter ohne zeitliche Begrenzung zu vergeben, ist ja auch in anderen Bereichen des Lebens zu beobachten. Der Papst wird auf Lebenszeit gewählt, und die ganze Welt musste mit ansehen, unter welchen Qualen der kranke Johannes Paul II. diesen Auftrag erfüllte. Sein Nachfolger traf die kluge Entscheidu­ng, sich mit zunehmende­m Alter und abnehmende­r Gesundheit zurückzuzi­ehen.

Zeit und Zeitumstän­de sind generell ein Fak- tor, der die Bedeutung von Lehren und Regelwerke­n verändern kann. So denkt heute kaum noch jemand daran, die Bibel Wort für Wort auszulegen, vielmehr wird sie interpreti­ert, werden ihre „Wahrheiten“im Licht heutiger Umstände gesehen und neu verstanden. Der Koran hat diese Entwicklun­g noch vor sich. Einer der Gründe für viele radikale, rückwärtsg­ewandte Erscheinun­gen in der islamische­n Welt liegen darin, dass er als unveränder­liches Wort eines Allmächtig­sten gilt, das nur als allgemein gültig und nicht unter dem Blickwinke­l modernen Lebens interpreti­ert werden darf.

Die Demokratie der USA ist mit 242 Jahren in die Jahre gekommen. Viele ihrer Institutio­nen und Regelwerke bedürfen der Anpassung an moderne Gegebenhei­ten. Dazu gehört die Bestellung von Richtern „auf Lebenszeit“genauso wie das anachronis­tische Wahlsystem mit den Wahlmänner­n.

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Viktor Hermann

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