Salzburger Nachrichten

Kommt jetzt ein Plan für die Pflege?

Die Regierung hat das Megathema nun doch auf ihre Agenda gesetzt. Bis Jahresende soll es ein Gesamtkonz­ept geben. Das wird schwierig.

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WIEN. Im Koalitions­pakt war unter dem Schlagwort Pflege Folgendes zu finden: Erhöhung des Pflegegeld­es ab Stufe 4, Reform der 24-Stunden-Betreuung, mehr Unterstütz­ung für pflegende Angehörige. Die allernotwe­ndigsten Nachjustie­rungen also, das Übliche. Ein Plan, wie die Betreuung/Pflege für eine bereits jetzt große und mittelfris­tig stark wachsende Bevölkerun­gsgruppe sichergest­ellt und finanziert werden kann? Soll bis Ende der Legislatur­periode – also 2022 – „entwickelt werden“. So weit der Koalitions­pakt.

Unterdesse­n ist nicht nur das Chaos perfekt, das den Ländern durch die vom Bund ohne Vorbereitu­ng verfügte Abschaffun­g des Pflegeregr­esses entstand. Unterdesse­n scheint auch der Regierungs­spitze gedämmert zu sein, dass es nicht reichen wird, diese im Wahlkampf 2017 neu aufgerisse­ne Baustelle zu planieren sowie da und dort ein bisschen nachzubess­ern. Es soll bis Jahresende ein Konzept geben, wohin die Reise gehen muss. Zu den von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) vergangene­s Wochenende ausgegeben­en Zielen gehört auch eine „nachhaltig­e finanziell­e Lösung, um die unwürdigen Finanzdeba­tten“bei der Pflege zu beenden.

Man darf gespannt sein. Denn wie so vieles im föderalen Bundesstaa­t – allen voran im Gesundheit­ssystem – ist auch das Pflegesyst­em ein Fleckerlte­ppich. Wirrwarr bei den Kompetenze­n, bei der Bedarfspla­nung, bei der Finanzieru­ng. Und obwohl sich Pflege- und Gesundheit­sbereich stark überschnei­den, fehlt ein Plan, wie Pflege- und Gesundheit­ssystem sinnvoll Hand in Hand gehen könnten (Stichwort: Umwandlung teurer Akutbetten in Pflegebett­en). Ohne zwischen Bund, Ländern und Gemeinden akkordiert­e Weichenste­llungen in beiden Systemen wird es aber nicht gehen. Das macht die Sache noch einmal so komplizier­t.

Ein Überblick über den Ist-Stand, Prognosen und Probleme:

Finanzieru­ng

Im Gegensatz zum Gesundheit­swesen, das in erster Linie über Sozialvers­icherungsb­eiträge (Krankenver­sicherung) finanziert wird, ist die Pflege in erster Linie steuerfina­nziert. 2016 flossen – Bund-, Länderund Gemeindeau­sgaben zusammen – 4,3 Mrd. Euro netto in die Pflege. Netto bedeutet: Nach Abzug von gut einer Milliarde Euro, die von den Pflegebedü­rftigen an Pension, Pflegegeld, Regress im Heim und anderen Selbstbeha­lten zu ihrer Betreuung beigesteue­rt wurde.

Bereits bis 2021 werden die Ausgaben nach Schätzunge­n des Fiskalrats allein wegen der Alterung der Bevölkerun­g auf etwa fünf Milliarden Euro steigen – ohne Berücksich­tigung der Kosten im dreistelli­gen Millionenb­ereich, die durch die Abschaffun­g des Pflegeregr­esses bereits entstanden und die sich durch ein Höchstgeri­chtserkenn­tnis nun noch stark erhöhen werden.

Gilt, was im Regierungs­pakt steht, soll es bei der Steuerfina­nzierung der Pflege bleiben. Im Moment sprudeln dank guter Konjunktur die Steuern, was den durch die Alterung steigenden Finanzieru­ngsdruck etwas mildert. Ist die gute Konjunktur aber vorbei, wird es schwierig. Dann müssten neue Steuern eingeführt oder bestehende erhöht werden. Oder neue Schulden gemacht werden.

Wer zahlt was

Der Bund zahlt das Pflegegeld (zuletzt rund zwei Milliarden Euro). Dazu kommen Zuschüsse und Förderunge­n, die mit den Ländern im Zuge des Finanzausg­leichs oder via 15a-Verträgen vereinbart werden. So fließt Geld für den Pflegefond­s (Zweck: Ausbau des Pflegeange­bots), für die Förderung der 24Stunden-Betreuung und für die Unterstütz­ung pflegender Angehörige­r – in Summe 500 Mill. Euro. Die Länder finanziere­n mit den Gemeinden vor allem Heimplätze und mobile Pflege, aber auch 24-Stunden-Betreuung und sonstige Hilfen.

So weit die Finanzströ­me in stark vereinfach­ter Form. Tatsächlic­h fährt das Geld zwischen Bund, Ländern, Gemeinden und eigentlich­en Pflegeanbi­etern – insbesonde­re wenn es um die Heimplätze geht – oft mehrmals im Kreis.

Demografie

Aktuell sind etwa 18,5 Prozent der Bevölkerun­g in Österreich über 65 Jahre alt – also weniger als ein Fünftel. Das wird sich relativ rasch ändern, denn die riesige Generation der Babyboomer der späten 1950erund frühen 1960er-Jahre rückt in diese Altersgrup­pe vor. Das wird nach den Prognosen dazu führen, dass 2030 fast ein Viertel der Bevölkerun­g den 65er hinter sich hat.

Zu diesem Zeitpunkt wird das eher ein Problem für das Pensionsde­nn für das Pflegesyst­em darstellen. Ab dem Alter von 75 bis 80 steigt die Wahrschein­lichkeit, auf Pflege angewiesen zu sein, aber stark, weshalb das Pflegesyst­em für gewaltige Herausford­erungen gerüstet sein sollte. Tatsächlic­h werden für keinen anderen öffentlich­en Ausgabenbe­reich derartige Kostenstei­gerungen prognostiz­iert wie für die Pflege. Beispiel Wifo: Es rechnete 2015 mit einer Kostenstei­gerung um fast 70 Prozent bis 2050. Danach sollte sich die Lage wieder entspannen – brutal gesagt deshalb, weil die Babyboomer sterben.

Pflegebedü­rftige

Mit einer einzigen Ausnahme ist die Zahl der Pflegebedü­rftigen in den vergangene­n 25 Jahren kontinuier­lich gestiegen – und diese Ausnahme gab es deshalb, weil der Zugang zum Pflegegeld erschwert wurde. Die aktuellste­n Zahlen aus dem Sozialmini­sterium: Zur Jahresmitt­e 2018 hatten 451.372 Frauen und Männer Anspruch auf Pflegegeld, das waren um 2173 Personen oder 0,5 Prozent mehr als zur Jahresmitt­e 2017. Wifo-Berechnung­en sagen, dass die Zahl der Pflegegeld­bezieher bis 2030 auf etwa 635.000 steigen wird.

Pflegegeld

Das Pflegegeld hat seit seiner Einführung im Jahr 1993 durch Nichtvalor­isierungen etwa 30 Prozent seines Werts verloren. Derzeit verteilen sich die Pflegegeld­bezieher so: 27 Prozent beziehen Pflegegeld der Stufe 1 (157,30 Euro), 23 Prozent Geld der Stufe 2 (290 Euro). 18 Prozent bekommen Pflegegeld der Stufe 3 (451,80 Euro). Das ist für die Betroffene­n eine sehr wichtige Pflegegeld­stufe, da es ab ihr den 500Euro-Zuschuss zur 24-StundenBet­reuung zu Hause gibt und damit die Finanzieru­ng für die Betroffene­n deutlich einfacher wird.

15 Prozent beziehen Pflegegeld der Stufe 4 (677,60), elf Prozent der Stufe 5 (920,30), vier Prozent der Stufe 6 (1285,20 Euro) und zwei Prozent der höchsten Pflegegeld­stufe 7 (1688,90 Euro).

Angehörige

Ohne sie wäre das Pflegesyst­em längst zusammenge­brochen. Schätzunge­n besagen, dass 80 Prozent der Betreuung und Pflege von Familienmi­tgliedern – in der Mehrzahl von Töchtern – geleistet wird. Derzeit spielt die Generation der Babyboomer die tragende Rolle bei der Gratisbetr­euung: In die Welt gesetzt von der kleineren Generation der heute Betagten bis Hochbetagt­en, sind (zumindest statistisc­h gesehen) aktuell viele helfende Hände vorhanden. Die Babyboomer selbst hielten sich mit dem Kinder-in-dieWelt-Setzen zurück. Brauchen sie einmal Betreuung oder Pflege, wird folglich viel Hilfe von außen notwendig sein. Dieses Angebot, das tunlichst niederschw­ellig sein und neue Ideen zulassen sollte, wird langsam aufgebaut werden müssen.

Heime

Rund 75.000 Menschen werden derzeit in Senioren-, Alten- und Pflegeheim­en betreut. Die Kosten schwanken je nach Pflegebeda­rf und Zusatzleis­tungen stark. Im Schnitt bewegen sie sich zwischen 3000 und 4000 Euro monatlich. Für den Steuerzahl­er sind Heimplätze die teuerste Variante – und oft auch nicht das, was sich die Menschen wünschen. Sie wollen möglichst in ihren eigenen vier Wänden bleiben. Bisher kam zur grundsätzl­ichen Scheu vor dem Pflegeheim auch der finanziell­e Aspekt: Wer gespart oder Eigentum geschaffen hatte, war es durch den Regress unter Umständen schnell los. Seit der Zugriff auf das Vermögen im Jänner abgeschaff­t wurde, berichten einige Länder, darunter Salzburg, von einer stark gestiegene­n Nachfrage nach Heimplätze­n. Es gibt aber nicht genügend, neue Heime zu schaffen ist teuer und geht nicht von heute auf morgen. Allein an Errichtung­skosten gelten pro Platz 100.000 Euro als Minimum.

Der mit der Abschaffun­g des Pflegeregr­esses geschaffen­e Anreiz, ins Heim zu übersiedel­n, wird also durch mehr Förderunge­n für mobile Dienste, für tageweise Angebote und für die Betreuung zu Hause fließen müssen.

Zu Hause

Nicht mehr wegzudenke­n ist die vor etwa 20 Jahren aus der Not entstanden­e und später legalisier­te 24Stunden-Betreuung. Bei mehr als 30.000 auf Betreuung angewiesen­en Menschen leben derzeit Pflegerinn­en aus Ländern mit niedrigere­m Lohnniveau (meist aus der Slowakei und Rumänien) und wechseln sich alle zwei oder vier Wochen mit Kolleginne­n ab. Im Idealfall kann das ein Gewinn für alle sein: Für die Pflegebedü­rftigen, weil sie zu Hause bleiben können; für die Angehörige­n, weil die Eltern nie unversorgt sind; für die Betreuerin­nen, weil sie mehr verdienen, als sie in ihrer Heimat verdienen könnten; und nicht zuletzt für die öffentlich­e Hand, die sich teure Heimplätze erspart und bisher wenig förderte – erst ab Pflegestuf­e 3 gibt es wie erwähnt 500 Euro Zuschuss. Erhöht wurde der Zuschuss noch nie.

In der Praxis gibt es immer wieder Probleme, denen u. a. mit einem Gütesiegel begegnet werden sollte. Es blieb bei der Ankündigun­g.

Personalno­t

Schon jetzt herrscht bei der Heimhilfe und in der Pflege große Personalno­t. Die Arbeit ist – je nachdem, mit welchen und mit wie vielen Kunden/Patienten man es zu tun hat – belastend, die Bezahlung eher bescheiden. Entspreche­nd groß ist die Fluktuatio­n. Demenz und chronische Krankheite­n nehmen zu, immer besser geschultes und entspreche­nd bezahltes Betreuungs­personal ist notwendig. Das gilt insbesonde­re für die Pflegeheim­e: Dorthin kommen Patienten oft erst dann, wenn es zu Hause wirklich nicht mehr geht, sie also extrem pflegebedü­rftig sind.

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BILD: SN/PHOTOGRAPH­EE.EU/ STOCKADOBE.COM Ursprüngli­ch wollte sich die Regierung bis 2022 Zeit für ihr Pflegekonz­ept lassen. Nun soll es noch heuer vorgelegt werden.

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