Salzburger Nachrichten

„Ich will bleiben – bis zu meinem Tod“

In dem Haus in der Wiener Ottakringe­r Straße gehen Menschen aus und ein, die keinen anderen Platz zum Leben mehr haben. Sie wären sonst obdachlos, die meisten sind ohne Arbeit, einige Alkoholike­r. Nun ist ihre Zufluchtss­tätte in Gefahr.

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WIEN. Wer einen Schlüssel zur gläsernen Haustür in der Ottakringe­r Straße 20 hat, ist angekommen. Seine Reise dorthin war lang und beschwerli­ch. Voll von Rückschläg­en und Trauer. Zuvor sind Ehen in die Brüche und Jobs verloren gegangen, Kinder auf tragische Weise ums Leben gekommen oder der Alkohol ist zum besten Freund geworden. Im VinziBett leben 47 Frauen und Männer, die sonst keiner mehr will – nicht die eigene Familie und auch keine Sozialeinr­ichtung.

Wie lang diese Schlüssel die Glastür noch sperren, ist allerdings unklar. Eigentlich hat die Vinzenzgem­einschaft St. Martin, Trägerin des Hauses, 2006 einen unbefriste­ten Mietvertra­g unterschri­eben. Doch nun ist die Kündigungs­klage eingegange­n. Das Haus – einst Produktion­sstätte der Firma Wolfhose – soll abgerissen werden.

Hedwig Klima klopft mit den Fingerknöc­heln gegen die Rückwand ihres Büros. „Das Gebäude ist in einem guten Zustand. Vielleicht ist es in zehn Jahren bereit für den Abriss. Aber sicher nicht heute.“Die VinziBett-Obfrau sagt das mit kämpferisc­hem Tonfall. Aufgeben ist für sie noch keine Option. Das macht die Pensionist­in, die sich ehrenamtli­ch um diese Notunterku­nft kümmert, unmissvers­tändlich klar. Trotzdem sehe man sich nach Alternativ­en um – „für den Ernstfall“.

Im ersten Stock pfaucht das Dampfbügel­eisen, das Herr George über weißen Stoff gleiten lässt. Der Mann aus Nigeria ist wie die meisten Dauergast und hat sich in seinem Zimmer, das er mit anderen teilt, wohnlich eingericht­et. Fotos hängen an der Wand und er hat sich einen Schokolade­vorrat angesammel­t. Dafür, dass er ein Dach über dem Kopf und ein Bett unter sich hat, bezahlt er täglich einen kleinen Beitrag. Ein, zwei oder fünf Euro sind es – je nachdem, wie viel sich jemand leisten kann. Hat einer kein Geld, bezahlt er eben nichts.

Das Haus selbst steht finanziell auf stabilen Beinen. Hedwig Klima deutet durch ein Fenster über die Straße. Dort, schräg gegenüber, steht der VinziShop, ein Secondhand­laden. Was er abwirft, deckt die Betriebsko­sten. Auch die Beiträge der Bewohner zählen.

Seit bekannt wurde, dass dem Haus das Ende drohen könnte, habe sich die Stimmung unter den Menschen dort verändert, sagt Herr Leo. Er ist 25 Jahre alt, hat kurdisch-russische Wurzeln, spricht Wiener Dialekt und will seinen vollen Namen, wie die anderen auch, nicht nennen. Er beschreibt die Lage als dramatisch: „Andere Menschen leben in Saus und Braus, ohne dankbar zu sein. Wir haben ganz wenig und sind unendlich froh darüber. Von welchem Teufel kommt es, dass wir hier nicht mehr sein dürfen?“

Hinter der Kündigungs­klage dürften neben dem Eigentümer auch Nachbarn stehen, die sich vor einigen Jahren über Küchengeru­ch und laute Hausbewohn­er ärgern mussten. VinziBett-Obfrau Hedwig Klima kontert: „Diese Vorwürfe sind viele Jahre her. Wir befinden uns in einer Wiener Fortgehmei­le, wo es am Wochenende generell lauter ist. Das hat mit unseren Leuten lang nichts mehr zu tun.“

Beim Rundgang durch die ehemalige Fabrik, in der auf rund 540 Quadratmet­ern 47 Wohnungslo­se in Mehrbettzi­mmern eine Herberge finden, begrüßt Klima einen offensicht­lich betagten Herren, der mit Mütze auf dem Kopf und Gummihands­chuhen gerade die Toilette schrubbt. Es riecht nach ZitronenPu­tzmittel. In allen Gemeinscha­ftsräumen herrscht Rauchverbo­t. Eine Frau sammelt inzwischen Papier ein. Schnell wird klar, dass die Frauen und Männer an ihrem Zuhause hängen und selbst schauen, dass es ordentlich ist. Klima: „Wir zwingen niemanden, etwas zu tun – außer, die Hausregeln einzuhalte­n.“

Auf die achtet Herr Markus. Er ist seit zwei Jahren in der Ottakringe­r Straße untergebra­cht und zum ehrenamtli­chen Hausleiter aufgestieg­en. Dem Pensionist­en haben private Probleme den Boden unter den Füßen weggezogen. Nachdem er sich im VinziBett berappelt hat, war er kurz davor, in eine Mietwohnun­g umzuziehen. „Dann hab ich gesehen, dass ich gebraucht werde und bin geblieben.“

Die Möglichkei­t zu bleiben unterschei­det die Einrichtun­g von anderen, die nur für ein paar Nächte zur vorübergeh­enden Heimat werden. Hedwig Klima erzählt: „Wenn ich bei der Aufnahme frage, wie lang jemand bei uns bleiben möchte, höre ich manchmal ein leises ,Ich will bleiben – bis zu meinem Tod.‘“

Herr Leo nimmt sich einen Kaffee und steckt die andere Hand in die Hosentasch­e. „Als ich einzog, war ich wie tot, nur mit offenen Augen. Heute freue ich mich über meine Zimmerkoll­egen. So eine Chance haben noch viele verdient.“

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BILDER: SN/HESSENBERG­ER Herr George bügelt für die Küche, Hedwig Klima und Herr Markus sichten Post, und der Fernsehrau­m wartet auf abendliche Besucher.
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