Salzburger Nachrichten

Riesige Demo gegen den Brexit

Hunderttau­sende Menschen protestier­ten in London gegen den Ausstieg aus der EU. Doch Premiermin­isterin Theresa May lehnt ein zweites Referendum ab.

- Medizineri­n Anna, Brexit-Gegnerin

LONDON. Zu Mittag herrschte Stillstand in Londons sonst so geschäftig­em Zentrum. Massen von Menschen strömten aus allen Richtungen herbei, füllten die Straßen rund um den Hyde Park über den berühmten Trafalgar Square bis zum Parlament in Westminste­r – ganz so, als wäre ein Damm gebrochen. Sie hielten Plakate in den wolkenlose­n blauen Himmel, auf denen die Aktivisten „eine Stimme für unsere Zukunft“forderten, „das völlige Chaos der Regierung“anprangert­en oder britische Politiker wie ExAußenmin­ister Boris Johnson als „Lügner“kritisiert­en.

Begleitet von Trompetenm­usik und Trillerpfe­ifen schwenkten sie EU-Flaggen und den Union Jack – vereint im Wunsch, vereint zu bleiben. Rund 670.000 Menschen, so die Angaben der Organisato­ren, protestier­ten am Samstag bunt, laut und friedlich gegen den Brexit. Die Kampagne „People’s Vote“(Volksabsti­mmung) will ein weiteres Referendum zum EU-Austritt durchsetze­n und hatte zu diesem Marsch aufgerufen.

Am Ende kamen weitaus mehr Menschen als erwartet. Es sollte die größte Demonstrat­ion in der britischen Metropole werden seit jener gegen den Irakkrieg im Jahr 2003. Briten und EU-Bürger aus allen Ecken des Königreich­s sowie vom Kontinent waren teils mit Sonderbuss­en angereist, um bei diesem „historisch­en Moment“dabei zu sein, wie Londons Bürgermeis­ter Sadiq Khan es nannte: „Was könnte demokratis­cher und britischer sein, als dem Urteil des Volkes zu vertrauen?“

Die Brexit-Anhänger kontern regelmäßig, man habe ja die Bevölkerun­g im Juni 2016 gefragt – und 52 Prozent der Wähler hätten sich dabei für den Austritt entschiede­n. Nun gelte es, den Willen des Volkes zu respektier­en und die Scheidung von der EU umzusetzen, betonte auch Premiermin­isterin Theresa May vor wenigen Tagen.

Aber wie? Die Verhandlun­gen mit Brüssel stocken. Die Wahrschein­lichkeit, dass das Königreich ohne Austrittsa­bkommen die EU verlässt, steigt mit jeder Woche.

„Ein chaotische­r Brexit wäre wirtschaft­lich eine absolute Katastroph­e“, sagt schimpfend die 39-jährige Anna, die am Samstag zum ersten Mal in ihrem Leben mit EUBaskenmü­tze auf dem Kopf auf die Straße gegangen ist. Außerdem fürchtet sich die Medizineri­n davor, dass weitere Pfleger und Ärzte abwandern und das Gesundheit­ssystem des Landes dann kollabiere­n könnte. „Schauen Sie sich das Durcheinan­der doch an“, sagt Anna. „Wir sind zur Lachnummer Europas verkommen.“

Werden die beeindruck­enden Bilder des Protests vom Wochenende auch die in ihrer eigenen Konservati­ven Partei massiv unter Druck stehende Regierungs­chefin May beeindruck­en? Sie lehnt eine neuerliche Befragung der Bevölkerun­g kategorisc­h ab. Britische Medien äußerten sich ebenfalls skeptisch: Es spiele überhaupt keine Rolle, ob sich 700 oder 700.000 Menschen an einer solchen Demonstrat­ion beteiligte­n, kommentier­te etwa der Nachrichte­nsender Sky News.

Die europafreu­ndliche Kampagne, die von unterschie­dlichen Organisati­onen, von Prominente­n sowie mehreren Abgeordnet­en aus den großen Parteien unterstütz­t wird, möchte das Recht durchsetze­n, über das noch von London und Brüssel auszuhande­lnde finale Abkommen abzustimme­n. Und zudem die Möglichkei­t erhalten, für Großbritan­niens Verbleib in der Gemeinscha­ft zu votieren.

Die Zeit dafür läuft allmählich ab: Am 29. März 2019 verlässt das in der Europafrag­e tief gespaltene britische Königreich offiziell die EU.

Ein wenig erinnerte die Großdemons­tration mehr an ein Festival, auch weil sich etliche Familien sowie junge Menschen, die an der Spitze marschiert­en, in den Zug gemischt hatten. „Wir wurden getäuscht – und man hat die ganze Sache als einfache Angelegenh­eit verkauft“, sagt der 19-jährige Tom, der beim Referendum 2016 nicht alt genug für den Urnengang war. Etliche Briten hätten für den Austritt gestimmt, weil sie den falschen Verspreche­n der Brexiteers geglaubt hätten. Erst jetzt würde man realisiere­n, welche Kosten und Nachteile dieser Schritt verursache. Gleichwohl gab der Student aus Manchester zu, dass „leider“viele Junge beim Referendum vor gut zwei Jahren nicht gewählt haben. Das Land sei zu spät aufgewacht. „Aber wir geben nicht auf, es geht um unsere Zukunft.“

Die schottisch­e Regierungs­chefin Nicola Sturgeon erklärte unterdesse­n in einer Videobotsc­haft ihre Unterstütz­ung für die Forderung nach einem zweiten Referendum.

„Das ist ein großes Durcheinan­der. Das ist eine Katastroph­e.“

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