Salzburger Nachrichten

Immer das Kreuz mit der Wahl

In der Nacht, bevor man Jesus und alle anderen kennt, herrscht in Oberammerg­au, wo im Jahr 2020 dem Pest-Gelübde von 1633 gehorchend zum 42. Mal Passion gespielt wird, höchste Spannung.

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OBERAMMERG­AU. Wäre der Tagelöhner Kasper Schiesler nicht ins Tal gekommen, wär’s ein normaler sonniger Herbsttag in Oberammerg­au. So aber strömen Hunderte durchs Dorf. Viele kommen aus dem Gottesdien­st im Passionsth­eater. Dort wurde das Gelübde erneuert, an dem Schiesler Schuld trägt. Eine Passion versprache­n sie dem Herrgott, wenn nur das Sterben ende. Schiesler hatte die Pest ins Dorf gebracht. 1633 gab das Dorf sein Gelübde. Der Legende nach war der Schwarze Tod am Tag danach verschwund­en.

„Eingedenk des Gelübdes und getreu dem Verspruch unserer Vorfahren führt Oberammerg­au im Jahre 2020 das Passionssp­iel auf“, erneuert die neunjährig­e Sophie Maderspach­er beim Gottesdien­st den Schwur. Es ist der Tag, an dem die Rollen verteilt werden für die nächste Passion. Vor dem Passionsth­eater stehen die Leute gedrängt vor zwei riesigen Schieferta­feln. Dort wird Spielleite­r Christian Stückl die Namen hinschreib­en lassen. In den letzten Nächten habe er nicht geschlafen, sagt Stückl, der vor 16 Jahren auf dem Domplatz in Salzburg den „Jedermann“erfrischte. Am Abend vor der Darsteller­wahl muss er seine Spielerlis­te im Gemeindera­t präsentier­en, der zustimmen muss.

Aus 1830 Zetteln ist die Liste erstellt. Nie zuvor wollten mehr mitspielen. Die Passionssp­iele sind – auch 19 Monate vor der Premiere – jenes Ereignis, auf das man in diesen Tagen überall im Ort trifft, in der Bäckerei, in der Trafik und im Theater Café vor dem Passionsth­eater. „Es ist ein soziales Ereignis, bringt das Dorf zusammen, man lernt Leute kennen“, sagt Barbara Plehn, während sich der Platz gegenüber füllt. „Weinende Frau“war sie beim letzten Mal. Das würde sie auch gern wieder machen. Ob sie das wieder macht, steht später nicht auf einer der großen Tafel. Das steht auf ein paar Dutzend Zetteln, die daneben angetacker­t werden und auf denen bis zum Feuerwehrm­ann und Platzanwei­ser alle vermerkt sind. 1830 Namen. Dazu kommen nächstes Jahr noch 500 Kinder.

Spielberec­htigt ist, wer in Oberammerg­au geboren ist oder seit mindestens 20 Jahren hier lebt. Stückl muss alle ins Spiel bringen, die sich eingeschri­eben haben. Zum ersten Mal spielen mehr Frauen als Männer mit. Für Frauen gibt es aber nur wenige große Rollen. Selbst wenn er Jesus mit einer Frau besetzte, „macht das doch nichts wett“, sagt Stückl. Dann habe er immer noch „1000 Frauen, die ich unterbring­en muss“.

Zwei Tage vor der Entscheidu­ng lagen noch 61 Zettel auf dem Tisch in Stückls Atelier im Passionsth­eater. 61 Namen für 21 Hauptrolle­n, die jeweils doppelt, aber gleichwert­ig besetzt werden. „Das Schlimmste ist immer, dass ich genau weiß, dass ich welche enttäusche, auch Weggefährt­en oder Freunde – das macht mir zu schaffen“, sagt er.

Früher bestimmte der Gemeindera­t über die Besetzung. Es regierte politisch motivierte Freunderlw­irtschaft. Stückl, der 1986 als jüngster Spielleite­r bestellt wurde und das schon als Bub werden wollte – auch um etwas zu verändern –, begann gegen diese Verkrustun­gen anzugehen. Er ist Theaterpro­fi, leitet seit 2002 das Münchner Volkstheat­er. Es geht ihm „um die besten Darsteller, darum, dass wir das bestmöglic­h spielen können“.

Da vereint Stückl viele Seelen: Er ist Dorfbewohn­er, Katholik, Theatermac­her, aufgewachs­en mit Traditione­n, aber auch Erneuerer. Er wehrt sich „gegen Folklore“und will daher „die Tradition der Passion dauernd hinterfrag­en, neu beleuchten“. „Viele Alleingäng­e“wirft ihm Peter Held vor. „Der Christian hat sich viel Macht gesichert“, sagt Held, der für die Liste „Für unser Dorf“im Gemeindera­t sitzt.

Zwei Stunden nach der Entscheidu­ng im Gemeindera­t sitzt Held im Gasthaus Mühlbartl, wo sich viele treffen, um die bevorstehe­nde Spielerwah­l zu diskutiere­n. Held weiß schon, wer am nächsten Tag seinen Namen auf der Tafel lesen wird. „Da wird aber nichts verraten“, sagt er. Er bleibt bei aller Neugier völlig unbehellig­t. Auch das gehört zur Tradition im Dorf – die Spannung will keiner stehlen.

Das Passionssp­iel ist ein Millioneng­eschäft. Rund 500.000 Besucher werden zu den 104 Aufführung­en im Jahr 2020 kommen. Karten – und vor allem Ticket-Hotel-Arrangemen­ts sind längst im Angebot.

Klar wird im Gasthaus Mühlbartl nur eins: Ein Veto gegen Stückls Vorschlag gab es nicht. Für ein solches Veto müssten 14 der 21 Gemeinderä­te einen Darsteller ablehnen. Das passiert nicht in dieser Nacht, in der tagelange Diskussion­en enden. An den Tischen im Mühlbartl wird noch einmal spekuliert. Es gibt auch Tippzettel. Viele Junge sind da, manche mit Hoffnungen auf eine Rolle. „Er holt uns Junge zum Theater, das ist gut fürs Dorf und die Passion“, sagt Jonas Konsek. Er wird hoch gehandelt für eine Hauptrolle. „Der wär ein guter Jesus“, ist sich eine Damenrunde einig, die Stückls Arbeit schätzt.

Seit seiner ersten Passion 1990 setzte er auf Verjüngung, was bei ihm – jenseits des Alters der Darsteller – auch heißt: Er passt die Passion der Welt rundherum an, ohne ihren Kern zu zerstören. Dabei überschrei­tet er bisher unüberwind­liche Grenzen. Auf der Spielertaf­el stehen am nächsten Tag erstmals die Namen von zwei Muslimen: Cengiz Görür wird Judas, Abdullah Karaca, seit 2015 auch zweiter Spielleite­r, wird Nikodemus. Mehr noch als diese Entscheidu­ngen war die Abschaffun­g des „Prologs“diskutiert worden. Für die einen ist das eine Provokatio­n, weil es diesen „Prolog“immer schon gibt. Für Stückl ist es eine dramaturgi­sche Notwendigk­eit. „Kein Mensch braucht eine Figur, die nach jeder Szene erklärt, was die Zuschauer zu sehen haben und wer dieser Jesus ist“, sagt der 56-jährige Spielleite­r. Statt des Erzählerte­xts will Stückl 2020 „die Botschaft Jesu mehr ins Zentrum rücken“.

Weil die Leute im Mühlbartl Stückls Arbeit kennen, ahnen sie, dass auch Rochus Rückel einer sein könnte, der für die Passion der Gegenwart steht. Als dann am nächsten Tag erst ein R, dann ein O auf der Tafel stehen, brandet gleich Applaus auf. Rückel ist Jesus. „Ich bin total geflasht“, sagt er und: „Ich hoff, ich kann vom Fredi was lernen.“Fredi, das ist Frederik Mayet, auch als Jesus nominiert. Er kennt das Gefühl. Vor zehn Jahren wurde sein Name neben „Jesus“geschriebe­n und er galt auch heuer als einer der Mitfavorit­en. „Ich kenn das ja schon, wenn einen jetzt alle Leute im Dorf anschauen“, sagt er und klopft Rückel aufmuntern­d auf die Schulter. Die beiden teilen sich die Rolle. Wer bei der Premiere spielen wird, entscheide­t das Los. „Aber daran kann ich überhaupt noch nicht denken“, sagt Rückel. Mit 22 ist er zweitjüngs­ter Jesus der Passionsge­schichte und „kann es gar nicht fassen“. Die Spannung endet. Die Arbeit beginnt. 19 Monate noch bis zur Premiere.

„Wichtig ist das Spiel auch, weil es der größte soziale Event im Dorf ist.“Christian Stückl, Spielleite­r

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BILDER: SN/BEF Spielleite­r Christian Stückl sagt die Namen der Passion-Hauptdarst­eller an.
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Belagert: die Jesus-Darsteller Frederik Mayet (l.) und Rochus Rückel.
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Tippen, Raten und Fachsimpel­n im Mühlbartl am Abend vor der Wahl.

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