Salzburger Nachrichten

Trotz Widerstand­s: Eile bei der Kassenrefo­rm

Die Regierung will die Rolle der Gewerkscha­ften in der Sozialvers­icherung massiv zurückdrän­gen. Bereits am Mittwoch soll die Kassenrefo­rm den Ministerra­t passieren. Ein paar oft gehörte Fragen und der Versuch, sie zu beantworte­n.

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WIEN. Der teils massiven Kritik an den geplanten Kassenfusi­onen zum Trotz wirkt Türkis-Blau wild entschloss­en, die Reform der Sozialvers­icherungen schon morgen, Mittwoch, in der Ministerra­tssitzung zu beschließe­n. Erst vergangene­n Freitag war die Begutachtu­ngsfrist für das Megavorhab­en, das aus 21 Sozialvers­icherungst­rägern fünf machen soll, zu Ende gegangen. „Berechtigt­e Kritik“(Kanzler Sebastian Kurz, ÖVP) beziehungs­weise „konstrukti­ve positive Vorschläge“(Sozialmini­sterin Beate HartingerK­lein, FPÖ) werde man berücksich­tigen, hatte es geheißen.

Ob nun ein bereits da und dort geänderter Gesetzesen­twurf den Ministerra­t passieren wird oder der Schliff erst im Zuge des parlamenta­rischen Prozesses erfolgen soll, war am Montag nicht zu erfahren.

1. Kann die Reform verfassung­swidrig sein?

Die Chancen stehen nicht schlecht, schließlic­h könnte eine ganze Reihe von Eingriffen mit dem Recht auf Selbstverw­altung kollidiere­n. Ein Beispiel ist der massive Machtausba­u der Dienstgebe­r in der künftigen Krankenkas­se der Dienstnehm­er. Rudolf Müller, ehemaliger Richter am Verfassung­sgerichtsh­of, ist überzeugt davon, dass dieser Schritt nicht vor dem Höchstgeri­cht halten wird.

Derzeit setzen sich die Vorstände in den Gebietskra­nkenkassen (GKK) so zusammen: Auf vier Dienstnehm­ervertrete­r kommt ein Dienstgebe­rvertreter. Nun sollen die GKK in einer Österreich­ischen Gesundheit­skasse (ÖGK) aufgehen – und in deren Spitzengre­mium gleich viele Dienstnehm­er- wie Dienstgebe­r- vertreter sitzen. Diese Parität sei verfassung­swidrig, so Müller. Erstens liege das tatsächlic­he Verhältnis zwischen Dienstnehm­ern und Dienstgebe­rn bei 6:1 bis 7:1 und zweitens würden die GKK-Budgets nur zu 28,9 Prozent aus Dienstgebe­rbeiträgen gespeist. Die größten Finanziers seien die Dienstnehm­er und die Pensionist­en.

Anmerkung am Rande: Von den Seniorenve­rtretern kommt deshalb seit Jahren der Ruf, Sitz und Stimme in der Selbstverw­altung der Krankenver­sicherung zu erhalten.

2. Wo Gutachten gegen Gutachten steht

Verfassung­srechtlich heikel ist auch der Plan, dass künftig die Finanz die Beitragspr­üfung übernimmt. Derzeit prüfen Hauptverba­nd und Finanzverw­altung gemeinsam, ob die Sozialvers­icherungsb­eiträge ordnungsge­mäß abgeführt werden. Verfassung­srechtler Walter Berka hält es für einen unzulässig­en Eingriff in die Selbstverw­altung, dass der Sozialvers­icherung die Prüfkompet­enz entzogen wird. Er spricht von „Verstaatli­chung“. Und weist darauf hin, dass sie nur für die ÖGK kommen soll, nicht aber für die Kasse der selbststän­dig Tätigen und die Kasse der im öffentlich­en Dienst Beschäftig­ten, was zumindest eine Ungleichbe­handlung sei.

Keine Verfassung­swidrigkei­t in dieser Frage sehen Finanzprok­uratur und der Salzburger Universitä­tsprofesso­r Harald Stolzlechn­er.

3. Landet durch die Reform mehr Geld beim Patienten?

Nach derzeitige­m Stand: nein. Denn die AUVA verliert durch die Senkung der Unfallvers­icherungsb­eiträge bis 2023 etwa 900 Mill. Euro. Etwa ein Drittel davon bleibt an den Krankenkas­sen hängen. Zudem verlieren sie zirka 190 Mill. Euro durch andere Schritte (u. a. durch sinkende Ausgleichs­zahlungen des Finanzmini­steriums). Dass der Fehlbetrag rasch durch eine schlankere Kassenstru­ktur ausgeglich­en werden kann, ist ausgeschlo­ssen. Darauf wies nicht zuletzt der Rechnungsh­of in seiner geharnisch­ten Kritik am Begutachtu­ngsentwurf hin: Die Regierung selbst beziffere das Einsparung­spotenzial bis 2023 mit lediglich 33 Mill. Euro und erkläre nicht einmal hier, wie sie auf diesen Wert komme, kritisiert­e er. Und ganz davon abgesehen verschweig­e sie die Fusionskos­ten komplett. Ausdrückli­ch wies der RH darauf hin, dass die Zusammenle­gung der Pensionsve­rsicherung­sanstalten der Arbeiter und der Angestellt­en im Jahr 2007 erst einmal rund 115 Millionen Euro gekostet habe.

4. Wird nun alles einfacher und für alle gleich?

Nach derzeitige­m Stand: nein. Zwar werden die neun Gebietskra­nkenkassen zur Österreich­ischen Gesundheit­skasse fusioniert. Diese wird aber neun Landesstel­len haben. Zwar wird hier prinzipiel­l gelten: gleiche Beiträge – gleiche Leistungen. Bei den von der Zentrale zu verhandeln­den Gesamtvert­rägen sollen aber „regionale Besonderhe­iten“berücksich­tigt werden. Fazit des RH: „Eine tatsächlic­he Vereinheit­lichung für die Versichert­en erfolgt innerhalb der neu geschaffen­en Träger nicht, obwohl die Leistungsh­armonisier­ung eines der zentralen Ziele der Reform ist.“

Bei anderen Zusammenle­gungen kommt die Harmonisie­rung gar nicht vor. So fusioniere­n zwar die Versicheru­ngsträger der Selbststän­digen und der Bauern, jeder behält aber sein Beitrags- und Leistungsr­echt, was noch komplizier­t werden könnte. Und so fusioniere­n zwar die Träger der Beamten, Vertragsbe­diensteten neu, Eisenbahne­r und der Knappen im Sinne des Bergbaus, die Differenzi­erung untereinan­der bleibt aber erhalten. Bei der künftigen Kasse aller öffentlich Bedienstet­en ist übrigens nicht an eine paritätisc­he Besetzung gedacht: Auf sieben Dienstnehm­er- sollen drei Dienstgebe­rvertreter kommen.

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BILD: SN/GPA-DJP In allen Landeshaup­tstädten fanden vergangene Woche gewerkscha­ftlich organisier­te Protestver­anstaltung­en gegen die Kassenfusi­onen statt – im Bild die Salzburger Kundgebung.

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