Salzburger Nachrichten

99 Patienten getötet: Pfleger steht vor Gericht

Ermittler sprechen von der wohl größten Mordserie der deutschen Nachkriegs­geschichte. Ein heute 41-jähriger Mann soll in Deutschlan­d aus Langeweile und Eitelkeit gehandelt haben.

- SN, APA, dpa

Der frühere Krankenpfl­eger Niels H. soll in zwei Kliniken in Niedersach­sen jahrelang Patienten umgebracht haben – so viele, dass Ermittler von der wohl größten Mordserie in der deutschen Nachkriegs­geschichte sprechen. Außergewöh­nliche Dimensione­n wird auch der Prozess gegen den 41-Jährigen haben. Er muss sich ab 30. Oktober wegen des Todes von 99 Menschen vor dem Landgerich­t Oldenburg verantwort­en. Womöglich wird die Anklage erweitert. Denn bei Befragunge­n durch einen Psychiater habe sich Högel kürzlich an einen weiteren Fall erinnert, sagte ein Sprecher der Staatsanwa­ltschaft am Wochenende.

Auf den Tag des Prozessauf­takts warten die Familien der Opfer seit Jahren. 119 Nebenkläge­r wollen dem Beschuldig­ten endlich ins Gesicht blicken. „Es wird eine Achterbahn der Gefühle“, sagte Christian Marbach, Sprecher der Nebenkläge­r. „Sie wollen, dass es endlich losgeht. Gleichzeit­ig haben sie auch Angst davor.“Voraussich­tlich zwei Stunden wird die Staatsanwä­ltin brauchen, um die Anklage zu verlesen – den Namen jedes einzelnen Opfers und dessen Schicksal. Für die Angehörige­n werde wohl erst in diesem Moment alles greifbar, meinte Marbach.

Der Diplomkauf­mann weiß, wovon er spricht. Sein Großvater ist eines der Opfer von Niels H. Der ExPfleger stand wegen des Todes von sechs Patienten bereits in zwei Verfahren vor Gericht. Seit 2015 sitzt der zu lebenslang­er Haft verurteilt­e Ex-Pfleger im Gefängnis. Daran wird auch der neue Prozess nichts ändern. Trotzdem sind die Erwartunge­n groß. „Da wird Rechtsgesc­hichte geschriebe­n in jeder Hinsicht“, sagte der Nebenklage­anwalt Franz-Josef Averbeck. Wegen des großen Andrangs hat das Landgerich­t die Verhandlun­g in die WeserEms-Hallen in Oldenburg verlegt, wo Unternehme­n normalerwe­ise zu Tagungen oder Banketten laden. An 23 Prozesstag­en verwandelt sich der 700 Quadratmet­er große Raum in einen Gerichtssa­al: Fast 350 Menschen finden dort Platz. Etwa 200 Stühle sind für Journalist­en und Zuschauer reserviert.

Der Fall offenbart auch die Schwachste­llen in den Kliniken. Von 2000 bis 2005 soll der heute 41Jährige in Spitälern in Oldenburg und Delmenhors­t nach Ansicht der Staatsanwa­ltschaft immer wieder Patienten ein Medikament gespritzt haben, das tödliche Nebenwirku­ngen hatte. Dann versuchte er, seine Opfer wiederzube­leben – was in vielen Fällen misslang. Er soll dies aus Langeweile getan haben – und um vor Kollegen mit seinen Wiederbele­bungskünst­en zu glänzen.

In beiden Spitälern schöpften Kollegen Verdacht, schritten aber nicht ein, obwohl es nach Ansicht der Ermittler konkrete Hinweise auf die Taten gab. Vier Personen des Klinikums Delmenhors­t werden sich wegen Totschlags durch Unterlasse­n vor Gericht verantwort­en müssen. Die Ermittlung­en gegen fünf ehemalige Klinikmita­rbeiter aus Oldenburg laufen noch.

Spannend wird, ob und wie sich der Beschuldig­te vor Gericht äußern wird. Bei Befragunge­n im Gefängnis hatte er die Vorwürfe weitgehend eingeräumt. Für den Vorsitzend­en Richter Sebastian Bührmann wird es das dritte Verfahren sein, das er gegen Niels H. leitet. Dieses sei notwendig, damit die Angehörige­n Gerechtigk­eit erführen und Gewissheit über das Schicksal der Opfer bekämen, betonte er.

Selbst wenn am Ende kein anderes Urteil als zuvor stehen wird, hat dieses doch auch juristisch­e Konsequenz­en, wie die Nebenklage­anwältin Gaby Lübben betont. Eine lebenslang­e Haftstrafe bedeutet in Deutschlan­d nicht zwangsläuf­ig, dass jemand bis zu seinem Tod im Gefängnis sitzt. Nach einer bestimmten Zeit prüft eine Strafvolls­treckungsk­ammer, ob die Strafe ausgesetzt werden kann. „Jede nachgewies­ene Tat verlängert seine Haft“, sagt Lübben. Bei mehr als 100 Morden könnte das möglicherw­eise bedeuten: auf eine sehr lange Zeit oder sogar für immer.

„Es wird eine Achterbahn der Gefühle. Sie wollen, dass es endlich losgeht.“Christian Marbach, Sprecher der Nebenkläge­r

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