Mit welchem Maß misst der Westen die Menschenrechte?
Die Empörung über den staatlichen Mord an einem saudischen Journalisten hat einen bitteren Beigeschmack.
Die Brutalität und Verlogenheit des saudischen Regimes im Fall des ermordeten Journalisten Jamal Khashoggi erregt zu Recht Übelkeit und Abscheu in der ganzen westlichen Welt. Eine Regierung, die ihre Bürger foltert und ermordet, verdient, als Paria behandelt zu werden. Die Empörung, die da vor allem die Gesellschaften des Westens ergriffen hat, ist verständlich. Doch sie kristallisiert sich um einen Kern, der nach Scheinheiligkeit riecht.
Denn die USA genauso wie alle jene europäischen Staaten, die jetzt zu Saudi-Arabien auf Distanz gehen, haben seit Jahrzehnten die Augen verschlossen vor der Tatsache, dass dieses an Öl und Dollar reiche Land von Menschenrechten nichts hält. In Saudi-Arabien werden politisch andersdenkende Oppositionelle behandelt wie Kriminelle – bis hin zu Folter, Auspeitschung und öffentlicher Enthauptung. In der Hauptstadt Riad gibt es einen öffentlichen Platz, auf dem jeden Freitag Gliedmaßen und Köpfe abgeschlagen werden. Diese grausamen Strafen werden unter den Augen von Zuschauermengen vollstreckt, ebenso wie die Prügelstrafe, die gegen Schulkinder ebenso verhängt wird wie angeblich untreue Ehefrauen.
Jetzt, nach dem Mord an einem Journalisten im saudischen Konsulat in Istanbul, entdeckt die westliche Welt plötzlich den widerlichen Charakter des Landes, das für sich beansprucht, der Hüter des sunnitischen Islams zu sein. Die Scheinheiligkeit westlicher Gesellschaften beschränkt sich freilich nicht auf Saudi-Arabien. Auch der Iran kommt in den Genuss der Tatsache, dass ein Großteil der Welt auf einem Auge blind ist, wenn es um Menschenrechte geht. Dort werden Oppositionelle ebenso an Baukränen aufgehängt wie Homosexuelle, vergewaltigte Frauen ebenso gesteinigt oder gehenkt wie Minderjährige.
Widerlich ist, wie die türkische Regierung sich als Ankläger gegen die Saudis aufspielt. Die Regierung in Ankara bedrängt, schikaniert und inhaftiert seit Jahren jeden, der dem Möchtegern-Sultan Erdoğan nicht zu Gesicht steht, ob Beamte, Militärs oder Journalisten.
Kritik an diesen Praktiken wird nur fallweise vorgetragen. Westliche Regierungen paktieren mit Ankara ebenso wie mit Riad, umschmeicheln Teheran wie die Golfstaaten. Europas und Amerikas Unternehmen beliefern die Folterer und Tyrannen mit Industriegütern und Waffen und kaufen ihnen ihr Öl ab in der Hoffnung, diese Länder als Verbündete in einer umstrittenen und manchmal umkämpften Region benutzen zu können.
Menschenrechte gelten nur wenig, wenn es um Geld, Öl oder Geostrategie geht. Die Empörung über den gemeinen Mord wird schon bald von „guten Geschäften“mit den Saudis abgelöst werden. Leider.