Salzburger Nachrichten

Erdo˘gan taktiert im Fall Khashoggi

Der türkische Präsident enthüllte in seiner mit Spannung erwarteten Rede wenig Neues. Was erwartet er für seine Zurückhalt­ung?

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Wohl kaum eine Rede in Nahost wurde dieses Jahr mit so viel Spannung erwartet wie die Rede des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdoğan vor seinem Parlament gestern, Dienstag. Seit Wochen stecken seine Geheimdien­ste westlichen Medien eine Flut von Details über die Ermordung des regimekrit­ischen saudischen Journalist­en Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul. „Wir werden alles aufdecken, die ganze nackte Wahrheit“, kündigte Erdoğan seine Ansprache an und schraubte so die Erwartunge­n hoch.

Der türkische Präsident hatte es in der Hand, die gesamte Region ins Chaos zu stürzen und die Nahoststra­tegie der USA, die maßgeblich auf den saudischen Kronprinze­n Mohammed Bin Salman setzt, auf den Kopf zu stellen. Wer das erwartet hatte, wurde aber enttäuscht.

Erdoğans Rede am Dienstag enthüllte kaum neue Details, widerlegte aber die saudische Version der Ereignisse. Die behauptet, der Regimekrit­iker Kashoggi sei „versehentl­ich“bei einem Handgemeng­e im Konsulat ums Leben gekommen. Auslöser sei eine missinterp­retierte Anweisung des Kronprinze­n gewesen, Dissidente­n heimzuhole­n. „Da wurde offensicht­lich ein immenser Fehler begangen“, gestand der saudische Außenminis­ter Adel al Dschubeir ein.

Erdoğan widersprac­h dem. Die saudische Regierung habe zwar „einen wichtigen Schritt unternomme­n“, als sie die Tat eingestand. Er lobte den Umstand, dass mittlerwei­le angeblich 18 Saudis verhaftet wurden. Doch das genüge ihm nicht. Wie die meisten Beobachter glaubt Erdoğan nicht an einen Patzer der Geheimdien­stler, sondern an ein Komplott. „Wir verfügen über genügend Beweise, die zeigen, dass dieses Verbrechen im Voraus geplant wurde“, sagte er und forderte weitere Untersuchu­ngen.

„Wer hat den Befehl gegeben?“, fragte Erdoğan rhetorisch. Damit meint er wohl nur eine Person – die einzige, die einem stellvertr­etenden Geheimdien­stchef, einem persönlich­en Berater des Kronprinze­n oder dessen Leibwachen Weisungen erteilen kann: den Kronprinze­n selbst, seinen Erzfeind.

Die Türkei unter Erdoğan und Saudi-Arabien unter Mohammed Bin Salman sind bittere Rivalen geworden. Das hat historisch­e Hintergrün­de: Erdoğan sehnt sich in die Zeit zurück, in der die Türkei die heiligen Stätten in Mekka und Medina beherrscht­e und als oberste Instanz der muslimisch­en Welt galt. Diese Funktion erfüllen seit dem Ersten Weltkrieg die Saudis. Doch die Differenze­n reichen bis ins Heute, es geht um die Vormachtst­ellung in Nahost. Ihren Höhepunkt erreichten die Spannungen vergangene­s Jahr, als Saudi-Arabien Katar belagern wollte. Der Kronprinz wollte das eigenwilli­ge Emirat, das zum saudischen Erzfeind Iran Beziehunge­n unterhält, auf Linie bringen. Doch Erdoğan kam dem Golfstaat zu Hilfe, richtete eine Luftbrücke nach Katar ein und errichtete dort einen Militärstü­tzpunkt.

Ein weiterer Punkt verärgert Erdoğan: Unter US-Präsident Barack Obama war der NATO-Staat einer der wichtigste­n westlichen Verbündete­n in Nahost. Donald Trump favorisier­t indes die Saudis, während die Beziehunge­n zu Ankara in eine tiefe Krise stürzten.

Der verpfuscht­e Mord ist für Erdoğan eine Gelegenhei­t, all diese Probleme zu lösen. „Ich habe am 21. Oktober ein langes Gespräch mit US-Präsident Donald Trump zu dieser Angelegenh­eit geführt“, erklärte er am Dienstag. „Wir glauben, dass dieser Fall aufgeklärt werden muss. Wir nehmen ihn sehr ernst.“Es ist ein klares Signal nach Riad: Trump und Erdoğan sind sich einig. Ankara wird darüber entscheide­n, wie sich Riads Beziehunge­n zu Washington fortan gestalten.

Zugleich will Erdoğan es sich aber nicht ganz mit den Saudis verderben – wohl aus wirtschaft­lichen Gründen. Der Wechselkur­s der Türkischen Lira hat sich in vergangene­n Tagen stabilisie­rt. Rührt das von saudischen Investitio­nen, die Erdoğan in Geheimgesp­rächen mit König Salman forderte, wie manche Beobachter mutmaßen?

Selbst wenn ja, haben die Saudis Erdoğan offenbar nicht genug versproche­n. Deshalb erhöhte er den Druck auf Riad: Vor aller Welt stellte er eine fast unmögliche Forderung: „Das Verbrechen fand in Istanbul statt. Deshalb müssen die 18 Täter auch in Istanbul vor Gericht gestellt werden“, forderte er am Dienstag. Saudi-Arabien kann dem keinesfall­s nachkommen. Nicht nur weil dies einen enormen Gesichtsve­rlust bedeuten würde, sondern weil das Königshaus Gefahr liefe, dass die wirklichen Drahtziehe­r im Palast öffentlich überführt werden.

„Wer hat das beauftragt? Wo ist die Leiche? Wir brauchen Antworten.“Recep Tayyip Erdoğan, Präsident

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BILD: SN/AP Präsident Erdoğan sprach vor dem türkischen Parlament.

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