Ein Film entschlüsselt die USA
„Diese Gesellschaft ist immer noch auf weiße Männer zugeschnitten“, warnt der Regisseur Roberto Minervini, der in seinen Filmen von Amerika erzählt, wie es sonst niemand tut.
WIEN.
Roberto Minervinis Film „What You Gonna Do When the World’s on Fire?“ist ein eindringlicher dokumentarischer Essay über Afroamerikaner im Süden der USA, die sich nach der Ermordung eines Schwarzen durch die Polizei zu Rassismus und Unterdrückung zu verhalten versuchen. Nach der Präsentation im Wettbewerb der Filmfestspiele Venedig zeigt ihn nun die Viennale, die den italienisch-amerikanischen Filmemacher Roberto Minervini zudem mit einem „In Focus“-Programm würdigt. Dessen Werke entziehen sich der Kategorisierung in Dokumentar- und Spielfilm und vermitteln Aufschlüsse über die Sozialstruktur des Landes, das die Welt so im Bann hält. SN: Sie stammen aus Italien, arbeiten aber in den USA. Wie sind Sie dort gelandet? Roberto Minervini: Ich bin damals für die Liebe in die USA gegangen, ich hatte eine amerikanische Freundin, und sie ist jetzt seit fast zwanzig Jahren meine Frau. Anfangs war es nicht einfach, ich hatte eine Liebe-Hass-Beziehung zu diesem Land: Liebe zu den Menschen, aber Hass gegenüber allem anderen, dem Kulturellen, dem Soziopolitischen. Aber um in Amerika überleben zu können, musste ich all meine Vorurteile über die USA fahren lassen, wirklich amerikanisch werden und das Land von innen kennenlernen. SN: Es wirkt, als hätten Filmschaffende mit europäischen Wurzeln oft eine Klarsicht auf die USA, die für amerikanische Filmschaffende nicht leicht zu erreichen ist. Um meine Arbeit glaubwürdig tun zu können, muss ich Insider sein. Aber ich bin mir der Dynamiken in der amerikanischen Sozialstruktur schon bewusst, wohingegen Amerikaner die Gesellschaft meist selbstzufrieden betrachten. Ich hatte schon vor einigen Jahren einen Film gemacht, der den Aufschwung der Rechten und die Wahl von Donald Trump voraussieht („The Other Side“, ebenfalls bei der Viennale zu sehen, Anm.), und konnte kaum glauben, wie erschrocken und überrascht das liberale progressive Amerika reagiert hat auf Trumps Wahl. SN: War es nicht die Hoffnung, dass er nicht gewinnen könnte? Nein, die Leute waren überzeugt, dass er keine Chance hätte, und haben mir den Vogel gezeigt. Aber wenn man wie ich in Texas lebt, ist es offensichtlich, dass er die Stimme der Mehrheit der Republikaner ist. Er ist die deutlichste, ungefiltertste Stimme, die diese Partei je hatte, noch dazu über Twitter. Damit hat er die direkte Verbindung zur neuen Wählergeneration. Roberto Minervini, Filmregisseur
Mich entsetzt, wie die Liberalen darüber schockiert sind und wie wenig dieses Amerika sich selbst zu erkennen schafft. Heute sind wir, die progressiven Amerikaner, zufrieden mit dieser Gesellschaft, die zwar Minderheiten inkludiert und Frauen versucht zu schützen. Aber diese Gesellschaft ist immer noch auf weiße Männer zugeschnitten. Es gibt keinen Kampf um Gleichberechtigung mehr, wir geben uns mit ein bisschen weniger Ungerechtigkeit zufrieden. Das quält mich enorm, weil ich als Vater von gemischtrassigen Kindern aus erster Hand miterlebe, was sie an Benachteiligung erfahren. SN: Wie müsste eine Alternative aussehen? Unsere Gesellschaft ist eingerichtet auf weiße Männer, die Geschichte hat uns nie ein anderes Modell geliefert. Wird sich das je ändern? Das werde ich wahrscheinlich nicht mehr erleben. Das derzeitige progressive Denken ist teuflisch in seiner Kompromissbereitschaft. Unser Denken sollte so klar, so entschlossen und, auch wenn das Furcht einflößende Worte sind, so radikal und militant sein wie das der Reaktionären. SN: Ihr Dokumentarfilm „What You Gonna Do When the World’s on Fire?“erzählt unter anderem von der Arbeit der Black Panthers. Vor allem aber ist Ihr Film von berückender Schönheit. Ich destilliere die 120 Minuten Film aus über 150 Stunden gefilmten Materials und verwende nur die wenigen Momente, die magisch sind. Und ich weigere mich, etwas zu filmen, das nicht meinen Kriterien von ästhetischer Angemessenheit entspricht. Schönheit erlaubt dem Publikum, sich zu entspannen und Vorbehalte abzulegen, also möchte ich etwa Angenehmes, Schönes zeigen, in dem man sich als Zuschauer verlieren kann. Wenn ein Moment wichtig und aufschlussreich ist, würde ich ihn trotzdem nie filmen, wenn die Lichtverhältnisse nicht richtig sind. Ich würde warten bis so ein Moment wiederkehrt, der auch die Würde, die Schönheit und die Feierlichkeit hat, die seiner Bedeutung angemessen sind.
Ich erzähle hier von Leuten, die immer als hässlich betrachtet wurden, auch ökonomisch und sozial. Daher ist es mir so wichtig, ihnen Würde und Schönheit zurückzugeben, mit Methoden, die wir üblicherweise aus der Fiktion kennen. SN: Wer sind als Filmschaffende Ihre Vorbilder? Ich bin verliebt in das brasilianische Randkino der Sechzigerjahre, das während der Diktatur gedieh. Damals war jeder Film ein Manifest, eine persönliche Verpflichtung. Diese Leute fühlten sich auf lange Sicht verpflichtet, Dinge zu ändern und Geschichten für die Nachwelt zu erzählen, es ging nicht darum, Preise zu bekommen. Kino: „What You Gonna Do When the World’s on Fire?“bei der Viennale in Wien morgen, Dienstag, 20 Uhr, Gartenbaukino, und am Donnerstag um 15.30 Uhr Filmmuseum.
„Ich möchte Würde zurückgeben.“