„Dieser Job hat mich gerettet“
Marwa Sarah ist 2013 aus Syrien nach Österreich gekommen. Seit zwei Monaten ist sie Lehrerin an einer Neuen Mittelschule in Wien. Eine Zwischenbilanz mit Überraschungen.
WIEN. Manchmal, wenn ihre Blicke über die schmucken Fassaden der Prunkbauten in der Wiener Kärntner Straße wandern, dann ist sie noch da. Diese Verwunderung, dieser Anflug von Fassungslosigkeit, wo sie da gelandet ist und wie das Leben derart spielen kann. Marwa Sarah, gerade einmal 30 Jahre alt, hat den Trümmern ihrer zerstörten Heimat Syrien den Rücken gekehrt und darf nun endlich ein bisschen zur Ruhe kommen. Seit Anfang September unterrichtet sie Vollzeit an einer Neuen Mittelschule in Floridsdorf. Werken und Bildnerische Erziehung.
„Dieser Job hat mich gerettet“, sagt sie. Und um es gleich vorwegzunehmen: Das hat nicht ausschließlich mit dem Krieg zu tun. Dass er ihr ständiger Begleiter sein würde, hat sie ohnehin erst spät begriffen. „Ich weiß, es klingt eigenartig, aber seit einigen Monaten bin ich wach. Das Gehirn braucht offenbar seine Zeit.“
Marwa stammt aus Homs, einer Stadt im Westen Syriens, 50 Kilometer von der Mittelmeerküste entfernt. 2006 geht sie nach Damaskus, um Kunst zu studieren. Zu diesem Zeitpunkt ist Homs eine pulsierende Metropole. Dass sie nur wenige Jahre später weltweit zum Sinnbild von Zerstörung, Vernichtung und Tod werden würde, konnte Marwa nicht ahnen. Sie erinnert sich gut an ein Syrien, dessen Bewohner genervt waren von den vielen Flüchtlingen und Fremdarbeitern aus dem Irak und aus dem Libanon. „Die Leute hatten Angst, dass sie ihnen die Wohnungen wegnehmen und die Arbeitsplätze.“
Es sind Sätze, wie man sie auch in Österreich seit Jahrzehnten zu hören bekommt. „Wie kann ich jemandem die Arbeit wegnehmen? Alles, was ich will, ist ein ruhiges Leben führen.“Dass sie das nicht aus der vielstrapazierten sozialen Hängematte heraus tun wollte, war der 30-Jährigen von Anfang an klar. Dass sie es allerdings auch gar nicht fertiggebracht hätte, damit hätte Marwa nicht gerechnet. „Ich kann so viel, ich habe Diplome. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass mich niemand braucht, dass es nie genug ist.“Das Warten, Hoffen und Bangen, ob sie Arbeit bekommt, die Bürokratie, all das hat sie seelisch schwer mitgenommen. „Ich habe alles versucht, habe mich als Dolmetscherin beworben. Etwa bei der Caritas. Aber da gibt es so viele, die das freiwillig machen.“Ratlosigkeit machte sich in Marwa Sarah breit: „Ich war fertig. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich hatte ja auch keine Freunde.“Auch nicht in der alten Heimat. „Die haben sich in alle Welt verstreut, der Kontakt reißt ab, jeder hat nun sein eigenes Leben, das sich von dem des anderen extrem unterscheidet.“
Einsamkeit und Ungewissheit zollten ihren Tribut. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch. Dabei hatte fünf Jahre zuvor alles sehr vielversprechend begonnen.
Aus Damaskus schickte Marwa eine Bewerbung an die Universität für angewandte Kunst in Wien. „Ich bekam ein 20-Tage-Visum für den Aufnahmetest.“Sie bestand.
Was folgte, war eine „unbeschreiblich schöne Zeit“, geprägt von akademischer Umgebung und intensivem Lernen. Doch als das Thema Geldverdienen immer konkreter wurde, wuchs die Angst vor der Zukunft.
Diese Zukunft hat nun – endlich – begonnen. „Ich kann mit den unterschiedlichsten Materialien arbeiten, das ist fantastisch“, zeigt sich die neue „Frau Professor“von ihrem Arbeitsplatz angetan. Und wenn ihre Schüler manchmal in disziplinäres Chaos verfallen, hält sie unaufgeregt dagegen.
Kontakt mit der Heimat hält Marwa regelmäßig. Ihre Tante hat in Homs ausgeharrt. Der Onkel sei im Krieg umgekommen. Die Stadt ist eine gigantische Ruine. Kein Strom, kein Krankenhaus, kein Supermarkt. Nichts.
„Es ist unglaublich. Aber jedes Mal, wenn ich anrufe, verstehe ich sie kaum, weil im Hintergrund so laut gelacht wird“, erzählt Marwa. Die Leute in Syrien, sagt sie, „sind einfach ganz anders drauf. Sie feiern, sie haben Spaß, sie genießen ihr Leben in vollen Zügen. Weil sie wissen, dass jeder Tag ihr letzter sein könnte.“
Und schon lässt sie wieder ihre Blicke schweifen; diesmal nicht über die Fassaden, sondern zu den Menschen, die über die Kärntner Straße eilen. Es ist die Verknüpfung von Wohlstand und latenter Unzufriedenheit, mit der sich Marwa etwas schwer tut. „Mich wundert, dass viele Menschen so schlecht gelaunt sind. Dabei haben sie doch alles. Manchmal möchte ich ihnen zurufen: Hey, genießt es doch mehr!“
Das hätte sie wahrscheinlich auch ihren Landsleuten gerne zugerufen, als diese noch ein Syrien vorfanden, in dem alles funktionierte. Weniger Grant, weniger Neid, weniger Angst, weniger Missgunst, weniger Hass. Marwa hat mittlerweile ein feines Gespür für Stimmungen. Und Stimmungsschwankungen. Deshalb klingt es fast wie eine Mahnung an Österreich, an Europa, wenn sie sagt: „Egal, wo ich hingehe, ich weiß, wie es zu Krieg kommt.“