Salzburger Nachrichten

Die irische Grenzfrage macht die Scheidung so knifflig

Ganz Großbritan­nien soll vorläufig in der Zollunion bleiben. Die Frage ist, was die Brexit-Befürworte­r dazu sagen.

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Man konnte es schon nicht mehr hören: Über Wochen hieß es, der Austrittsv­ertrag zwischen Großbritan­nien und der EU sei zu 95 Prozent fertig. Aber die letzten fünf Prozent hatten es in sich. Sie betrafen die Grenze zwischen der Republik Irland, die in der EU bleibt, und Nordirland, das als britische Provinz Teil des Königreich­s ist. Es ist eine besonders sensible Grenze, die in jedem Fall offen bleiben soll, weil das ein Teil des Karfreitag­sabkommens von 1998 ist. Dieses hatte Frieden auf die Insel gebracht, die Jahrzehnte vom blutigen Konflikt zwischen Protestant­en und Katholiken zerrissen worden war. Daher pochte die EU auf eine Garantie, den sogenannte­n Backstop, für eine weiche Grenze in Irland, auch wenn Großbritan­nien nicht mehr der EU angehört.

Nun scheint eine Lösung gefunden zu sein, wie Kontrollen auf der irischen Insel vermieden werden sollen. Demnach würde Großbritan­nien zusammen mit Nordirland vorübergeh­end in einer Zollunion mit der EU bleiben – und Nordirland im EU-Binnenmark­t.

Näheres war dazu zunächst nicht zu erfahren. Entscheide­nd ist etwa, wie lang diese Übergangsr­egelung dauern soll und wer sie unter welchen Bedingunge­n kündigen kann. Der gesamte Vertragsen­twurf umfasst jedenfalls mehrere Hundert Seiten.

Die Brexit-Befürworte­r hatten sich allerdings immer gegen einen Verbleib in der Zollunion ausgesproc­hen: Denn erstens sind Großbritan­nien dann keine Zoll- und Handelsabk­ommen mit anderen Staaten möglich. Und zweitens muss sich das Land weiterhin den EU-Regeln unterwerfe­n.

Zumindest der weitere Fahrplan auf EU-Seite ist klar: Heute, Mittwoch, um 14 Uhr (15 Uhr MEZ) tritt das Kabinett von Theresa May in London zusammen. Zwei Stunden später folgt eine Sondersitz­ung der EU-Botschafte­r in Brüssel. Zu dieser lädt die österreich­ische Ratspräsid­entschaft ein. Die Botschafte­r sollen ein Treffen der EU-Europamini­ster am kommenden Montag vorbereite­n – und voraussich­tlich einen speziellen Brexit-Gipfel der Staats- und Regierungs­chefs am 25. November. Einige Staatschef­s müssen den Sanktus ihrer Parlamente einholen, um den Austrittsv­ertrag unterschre­iben zu können. Und schließlic­h muss neben dem EUParlamen­t auch noch das britische Parlament zustimmen. Letzteres ist alles andere als gewiss.

Wie dramatisch die Brexit-Verhandlun­gen waren, illustrier­t die Tatsache, dass parallel dazu immer auch schon an Notfallplä­nen gearbeitet wurde – für den Fall, dass sie noch scheitern sollten. Am Dienstagna­chmittag hat die EU-Kommission solche vorgestell­t. Sollten der Krisenfall und ein „No Deal“-Szenario eintreten, dann sollte zumindest der Reiseverke­hr von der Insel auf den Kontinent und umgekehrt nicht betroffen sein. Die EU-Kommission schlug daher vor, dass in diesem Fall britische Bürger visafrei für die Dauer von 90 Tagen in die EU einreisen dürfen. Voraussetz­ung dafür sei allerdings, dass im Gegenzug auch Großbritan­nien den Unionsbürg­ern freie Einreise zusichert. Eine weitere Vorkehrung für den ungeregelt­en Brexit betrifft technische Adaptierun­gen im Energieber­eich: Es soll demnach bei einem Energie-Effizienzz­iel von mindestens 32,5 Prozent bis 2030 bleiben, auch wenn statt 28 Staaten nur noch 27 an Bord sind.

„Der Austritt Großbritan­niens wird zu Brüchen führen, ob nun ein Vertrag kommt oder nicht. Wir haben alle die Pflicht, so wenig Schaden wie möglich anzurichte­n“, hat EU-Vizekommis­sionschef Frans Timmermans gesagt. Der Bruch mit den allerschli­mmsten Folgen scheint nun vermieden zu sein. Scherben gibt es dennoch genug.

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