Salzburger Nachrichten

EU bereitet den Abschied der Briten vor

Das Brexit-Endspiel hat begonnen. In London billigte das Kabinett den Scheidungs­vertrag.

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Theresa May ist am Mittwochab­end ein Kunststück gelungen: Die britische Premiermin­isterin konnte in einer fast fünfstündi­gen Sitzung ihr widerstreb­endes Kabinett davon überzeugen, dem 585 Seiten starken Brexit-Vertrag zuzustimme­n, auf den sich die Verhandlun­gsteams der EU und des Vereinten Königreich­s geeinigt hatten. Jetzt muss sie noch ihr Parlament überzeugen. Dafür werde sie ab heute, Donnerstag, mit aller Kraft kämpfen, sagte sie sichtlich bewegt, als sie am Abend vor die Tür ihres Amtssitzes in der DowningStr­eet 10 trat. Sie sei mit ganzem Herzen überzeugt, dass der Deal mit der EU der bestmöglic­he Abschluss und im nationalen Interesse sei.

Wenig später betrat EU-Chefverhan­dler Michel Barnier die Bühne in Brüssel und stellte die Eckpunkte vor – inklusive der Garantie, dass es auf der irischen Insel zu keiner harten Grenze kommen werde. Gleichzeit­ig wurde der Vertragsen­twurf, dem noch das britische Parlament, das EU-Parlament und die EU-Staaten zustimmen müssen, im Internet veröffentl­icht. Jedenfalls kann die EU nun die weiteren Schritte zum Brexit vorbereite­n. Die EU-Botschafte­r trafen bereits am Mittwoch erste Vorbereitu­ngen. Frühestens am Montag könnten die EU-Minister tagen, möglicherw­eise am 25. September die Staats- und Regierungs­chefs zum Brexit-Gipfel zusammenko­mmen.

LONDON, BRÜSSEL. „Diese Entscheidu­ng wurde nicht leichtfert­ig getroffen, aber ich glaube, es ist eine Entscheidu­ng, die zutiefst im nationalen Interesse ist.“Mit diesen Worten verkündete Theresa May am Mittwochab­end nach einer fast fünfstündi­gen Sitzung ihres Kabinetts, dass dieses dem Brexit-Vertrag grünes Licht gibt. Die Erleichter­ung und die Müdigkeit nach stundenlan­gen Verhandlun­gen auf Messers Schneide waren der britischen Premiermin­isterin anzusehen, als sie aus der Tür ihres Amtssitzes in der Downing Street Nr. 10 trat.

Damit hat sie einen Etappensie­g über ihre Gegner in der eigenen Regierung errungen. Und ein paar Stunden Schlaf gewonnen, bevor sie sich heute, Donnerstag, wieder dem britischen Parlament stellen muss. Mit Blick auf dieses Parlament betonte die Regierungs­chefin: „Das ist ein Beschluss, der einer intensiven Prüfung unterzogen wird, und das ist genau, wie es sein sollte, und vollkommen verständli­ch.“

In Brüssel konnte man das Aufatmen nach den ersten Sätzen Mays förmlich spüren. Alle hatten darauf gewartet – vor allem EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier. Der trat um 21 Uhr vor die Presse und stellte den Vertrag erstmals auch inhaltlich dar. Erleichter­t hielt er den Entwurf in die Kameras, entstanden in 17monatige­n Verhandlun­gen und mit 585 Seiten so dick, wie in Vor-Handy-Zeiten die Telefonbüc­her waren.

Und was steht nun drin, in diesem Werk?

Vor allem Rechtssich­erheit für die Menschen in Großbritan­nien und den 27 übrigen EU-Staaten: Dass ihr Status und ihre Rechte zunächst unveränder­t gewahrt bleiben, egal ob sie Unionsbürg­er oder britische Staatsbürg­er sind. Das betonte Barnier gleich zuerst.

Auch für die Wirtschaft dies- und jenseits des Ärmelkanal­s ändere sich zunächst nichts, betonte er.

Und vor allem werde die für den Frieden auf der irischen Insel so wichtige offene Grenze zwischen dem EU-Land Irland im Süden und der britischen Provinz Nordirland garantiert – indem das gesamte Vereinigte Königreich in einer Zollunion mit der EU bleibe. Und zwar nur vorübergeh­end, wenn Großbritan­nien und die EU bis Ende 2020 keine andere, eine offene Grenze garantiere­nde Lösung finden.

Denn bis dahin, also für die nächsten 21 Monate, läuft die so genannte Übergangsf­rist, in der sich ohnedies noch kaum etwas im Verhältnis zwischen dem Vereinten Königreich und der EU ändert. Außer, dass die Briten am 29. März 2019 formell austreten. Aber bis Ende 2020 werden dann die näheren Modalitäte­n über das zukünftige Verhältnis verhandelt – inklusive Irland-Frage. Einigt man sich nicht, kann die Übergangsf­rist nochmals „für einen begrenzten Zeitraum“verlängert werden. Oder es greift eben die Garantie, meist „Backstop“genannt, wonach vorübergeh­end das gesamte Vereinigte Königreich in einer Zollunion mit der EU bleibt.

Aber Barnier machte am Mittwochab­end auch klar: „Der Weg ist noch weit.“Dieser führt unter anderem durch das britische Unterhaus. Mit der Ratifizier­ung des Austrittsv­ertrags müsste das britische Parlament im Dezember beginnen, damit alle Fristen bis zum tatsächlic­hen und vor allem geregelten EUAustritt eingehalte­n werden können.

Die ursprüngli­che Idee war, nur die Provinz Nordirland in der Europäisch­en Zollunion und im Binnenmark­t zu halten. Das war aber für die britische Seite nicht akzeptabel. Vor allem die nordirisch­e Partei DUP sah die Einheit des Landes gefährdet. Aber auch mit dem vorliegend­en Vertragsen­twurf ist sie noch nicht zufrieden. Sie kündigt ein Nein im Parlament an. Ihr Abgeordnet­er Jeffrey Donaldson sagte, der Brexit-Deal habe immer noch das Potenzial, das Land zu spalten.

Die Hardliner unter den Brexiteers schäumen wegen des Verbleibs in der Zollunion ohnedies. Sie sehen Großbritan­nien zum „Vasallen“der EU herabgewür­digt: Das Königreich müsse weiter nach EURegeln spielen, hätte aber nichts mitzureden und könnte zudem keine Handels- und Zollabkomm­en mit anderen Staaten abschließe­n.

Und dann sind da noch die Schotten im britischen Unterhaus. Sie würden selbst gern in der EU bleiben. Sie wehren sich daher nun gegen eine Sonderbeha­ndlung Nordirland­s, die die Provinz an die EU binden würde, während sie auf mittlere Sicht der Anbindung an die EU verlustig gehen.

Wenn also demnächst in Brüssel die EU-Staats- und Regierungs­chefs zum Brexit-Gipfel zusammenko­mmen und den Deal besiegeln, ist der noch lange nicht durch. Das letzte Wort wird im britischen Parlament gesprochen.

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BILD: SN/AP Theresa May hat die erste Etappe gemeistert und ihr Kabinett überzeugt. Jetzt wartete das Parlament auf sie.

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