Buhlschaft und ewige Mythen
Markus Hinterhäuser und seine künstlerischen Mitstreiter haben sich auch für die Salzburger Festspiele 2019 wieder beziehungsreiche Gedanken gemacht, ohne ein „Motto“festzuschreiben.
Valery Tscheplanowa heißt – wie in einem Teil der gestrigen Ausgabe schon berichtet – die Buhlschaft bei den Salzburger Festspielen im kommenden Jahr. Im Zentrum des Programms steht die Beschäftigung mit antiken Mythen. Diese „kulturellen Speicher“, diese „Archive der Welterkenntnis“, wie Intendant Markus Hinterhäuser das am Mittwoch nannte, sollen unter Gesichtspunkten der Gegenwart angezapft werden.
SALZBURG. Bei der Vorstellung des Detailprogramms der Salzburger Festspiele für den Sommer 2019 sprach Intendant Markus Hinterhäuser am Mittwoch vom letzten Teil einer dramaturgischen Trilogie. Die Frage nach Strategien der Macht beschäftigte ihn in seiner ersten, das Thema der Passion (im Sinne von Leiden und Leidenschaft) in seiner zweiten Saison. Nun fokussiert das mit 199 Vorstellungen in 43 Tagen an sechzehn Spielstätten wiederum äußerst reichhaltige dritte Festival unter der Ägide dieses Intendanten schlicht, aber gewichtig auf die – antiken – Mythen, in denen sich das Heute abbilden soll.
Haben die Mythen, die urewigen Geschichten von gestern, noch aktuell Bestand? Funktioniert der „kulturelle Speicher“, das „Archiv unserer Welterkenntnis“noch oder womöglich gerade jetzt in unseren unruhigen, unsicheren Zeiten wieder als „magischer Spiegel“, als den Festspielgründer Hugo von Hofmannsthal die Antike gesehen hat?
Die mythischen Erzählungen jedenfalls stellten ewig gültige Fragen nach unserer Existenz. Die Themen sind umfassend, groß und konkret zugleich: Krieg, Flucht, Opfer, Rache, Schuld, Sühne. Die Figuren sind Archetypen in Extremzuständen: Medea und Oedipus, Idomeneus und Elektra, Kreon und Antigone, Orpheus und Eurydike. In allen diesen Gestalten begegnen uns aber nicht ferne Schatten, sondern – in welcher Form auch immer: ob in Leid und Wut, als Täter oder Opfer, als schuldlos Schuldige oder als politische Machthaber – Menschen, deren Schicksale uns angehen. Die menschliche Würde, so betonte Intendant Hinterhäuser, sei ein wichtiges Movens, ebenso wie das antike Prinzip der Katharsis, der Reinigung, der Erkenntnis.
Das „Echo der Antike“(Peter Handke) begegnet im Festspielprogramm 2019 durch die Stile, Zeiten, Genres: in Mozarts Dramma per musica „Idomeneo“(dirigiert von Teodor Currentzis, inszeniert von Peter Sellars), in Luigi Cherubinis Oper „Médée“(Thomas Hengelbrock dirigiert, Simon Stone inszeniert; mit Sonya Yoncheva), in der bedeutenden Tragédie lyrique „Oedipe“von George Enescu (Ingo Metzmacher/Achim Freyer) und in der Opéra bouffon „Orphée aux Enfers“von Offenbach, in der die Verhältnisse burlesk auf den Kopf gestellt werden (Enrique Mazzola/ Barrie Kosky).
Wie sehr Festspiele nicht eine beliebige Aneinanderreihung von Einzelereignissen sind, sondern ein großes Ganzes, zeigen die Verschränkungen zum Schauspiel, in denen Schauspielchefin Bettina Hering mit neueren und neuesten Stoffen Korrespondenzen herstellen will: mit einer großen Eigenproduktion von Gorkis „Sommergästen“auf der Pernerinsel, mit der die viel beachtete slowenische Regisseurin Mateja Koležnik ihren Salzburg-Einstand gibt, mit Ödön von Horváths „Jugend ohne Gott“, inszeniert von Thomas Ostermeier, mit Molnárs „Liliom“in der Lesart des extravaganten Ungarn Kornél Mundruczó und der Uraufführung von Theresia Walsers Text „Die Empörten“(nach dem Mythos von Kreon und Antigone) in der Regie von Burkhard C. Kosminski.
Keine „Randerscheinung“sind die Schauspielrecherchen und Lesungen, bei denen etwa Tobias Moretti zu einer Wirtshaus-Tirade im Stil Thomas Bernhards ins Restaurant M32 lädt („Zum Sisyphos. Ein Abendmahl“von Albert Ostermaier), sich Senta Berger und Ulrich Matthes auf literarische Spurensuche nach Orpheus und Eurydike begeben oder eine Marathonlesung des „Ulysses“von James Joyce angesetzt ist.
Verbindungen in Fülle gibt es auch im 81 Termine umfassenden Konzertbereich, für den Florian Wiegand außer den klassischen Konzerten der Wiener Philharmoniker und von Gastorchestern Porträts des französischen Komponisten Pascal Dusapin (mit einer konzertanten Aufführung seiner Oper „Medeamaterial“nach Heiner Müller) und George Enescus (1881–1955), beziehungsreiche Kammermusiken, Solisten- und Liederabende – hier wird man endlich auch in Salzburg den Welterfolg von Schuberts „Winterreise“in der Visualisierung von William Kentridge sehen – und die diesmal dem Thema „Lacrimae“(Tränen) gewidmete elfteilige Ouverture spirituelle mit weit in die Musikgeschichte ausgreifenden Projekten programmiert hat.
Die Sorge der Regisseurin Mateja Koležnik, dass Kunst heute zunehmend einer „Kulturindustrie“geopfert würde, trifft jedenfalls für die Salzburger Festspiele 2019 nicht zu.
„Wir müssen mit dem Blick der Gegenwart auf die Antike schauen.“Markus Hinterhäuser, Intendant