„Allem Schönen die Nase brechen“
Schauspielerin Tilda Swinton und Regisseur Luca Guadagnino erläutern, wie viel Politik und Hexerei in einem Horrorfilm stecken.
WIEN. Berlin, 1977, die Mauer zieht sich wie eine klaffende Wunde durch die Stadt, der RAF-Terror spaltet die Gesellschaft, die NS-Zeit ist nicht einmal ansatzweise aufgearbeitet. In diese Atmosphäre kommt die junge US-Tänzerin Susie Bannion (gespielt von Dakota Johnson), um bei der Kompanie von Madame Blanc (Tilda Swinton) anzufangen. Doch in Wahrheit ist die Tanztruppe ein Hexenzirkel: Der Horrorfilm „Suspiria“unter der Regie von Luca Guadagnino ist die Neuauflage von Dario Argentos Film aus dem Jahr 1977. Dass die neue Verfilmung in ebendiesem Jahr spiele, sei kein Zufall, erläutern Luca Guadagnino und Tilda Swinton im SN-Interview. SN: Sie arbeiten schon seit 25 Jahren zusammen. Haben Sie ständig Projekte, über die Sie sprechen? Guadagnino: Ja, aber nicht alle davon sind Filme. Ein Projekt könnte genauso sein, zu einem Bauern zu gehen, der irgendwo besonders schönen Käse macht, und den zu probieren. Unsere Projekte sind die Abenteuer im Leben, und es ist halt so, dass wir beide Filmschaffende sind, und beide die Gelegenheit haben, uns auch mit diesem Spielzeug namens Kino zu beschäftigen. Swinton: Im Grunde sehe ich uns beide auch wie Bauern, wir pflanzen ständig neue Samen. Manches gedeiht, manches sogar schnell, und anderes will überhaupt nicht wachsen. Es sind aber immer ein paar Dinge in der Erde, man weiß halt nicht recht, was davon auch Früchte trägt. SN: Das Remake von Dario Argentos „Suspiria“hat unerwartete Früchte getragen: Aus einem Horrorfilm wurde da eine Geschichte mit überraschend politischem Hintergrund, durch die Verlagerung ins Berlin des Jahres 1977. Guadagnino: Darios Film spielt ja in Freiburg im Breisgau, insofern war Deutschland als Handlungsort immer da. Für unsere Version haben wir uns für das Jahr 1977 entschieden, in dem Darios Film ins Kino gekommen ist. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Deutschland in Aufruhr und Umsturz: Mit dem RAFTerror ist ein großer Konflikt im Gange, der das Fundament dieser Gesellschaft erschüttert, die gerade erst wieder aufgebaut wurde nach den Schrecken in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Wie der Konflikt die Generationen spaltet, wie sich da zwei Fronten gegenüberstehen, was die Frage nach Schuld und Verantwortung für die Nazizeit betrifft, und die Brutalität dieses Konflikts, all das verursacht ein so hohes Ausmaß an Beklemmung, dass wir nicht umhinkonnten, diese Gelegenheit aufzugreifen und das auf dem Gebiet der Hexerei zu spiegeln. SN: Diese Beklemmung, die die Gesellschaft 1977 erfährt, ist vielleicht vergleichbar mit der, die wir heute erleben. Ist da vielleicht heute auch Hexerei involviert? Guadagnino: Entweder das – oder es ist eine Kombination aus Schuld und Scham, wie damals. Aber heute ist da auch ein anderes Problem. In den Jahrzehnten des Wiederaufbaus gab es so etwas wie einen gesellschaftlichen Pakt, jegliche Schuld zu leugnen und Fakten abzustreiten, nicht nur in Deutschland. Heute liegt das Problem woanders, da ist eine intellektuelle Armut, Vergesslichkeit und Eindimensionalität, und das ist noch schlimmer. Es ist kein Zufall, dass eine Gabe der Hexe Suspiria am Ende ist, Menschen vergessen zu lassen. Swinton: Die durch die Berliner Mauer zerschnittene Stadt ist wie die Manifestation einer zerbrochenen Identität, das ist im Film deutlich spürbar. „Suspiria“handelt von tiefen Sedimentschichten unbewusster Identität, die durch die Geschichte verdrängt wurde. Und dann sind da die binären Universen von Ost und West. Ich habe Berlin erst Anfang der Achtzigerjahre kennengelernt, aber auch da war es, als sei diese Stadt voller Illusionen und doppelter Bedeutungen. SN: Eine der Dimensionen, in der mehrfache Bedeutungen vorkommen in „Suspiria“, ist der Tanz, der hier nicht nur Kunst ist, sondern auch Politik und sogar Hexerei. Swinton: Es gibt ein Zitat von Goebbels, das wir lang am Beginn des Films stehen hatten und das in etwa bedeutet, Tanz solle nur schön und unterhaltsam sein, nie philosophisch. Madame Blanc, die ich spiele, dreht die Aussage um und sagt: „Wir müssen allem Schönen die Nase brechen. Tanz kann nie fröhlich oder schön sein.“Tanz ist hier eine politische, energetische, verwünschende Macht. Film: