2008 Ein monströses Verbrechen
Fast ein Vierteljahrhundert hielt Josef F. seine Tochter in einem Verlies in Amstetten gefangen und zeugte sieben Kinder mit ihr. Bis einer der größten Fälle der heimischen Kriminalgeschichte vor zehn Jahren publik wurde.
Inzestmonster, Despot, der Inbegriff des Bösen: Viele Namen wurden Josef F. seit dem 26. April 2008 gegeben. Jenem Tag, an dem ans Licht kam, was 24 Jahre lang im Dunkeln geblieben war. Ein Verbrechen, das die Grenzen des Vorstellbaren sprengte: Fast ein Vierteljahrhundert hielt Josef F. seine Tochter Elisabeth in einem selbst gebauten Keller unter seinem Wohnhaus gefangen, quälte, schlug, vergewaltigte und schwängerte sie mehrmals.
Sieben Kinder wurden in der Finsternis geboren. Eines, ein Bub, starb nach der Geburt und wurde von Josef F. in einem Holzofen verbrannt, für drei blieb das Verlies die einzige Welt, die sie kannten. Die anderen legte der ehemalige Elektrotechniker als Findelkinder von Elisabeth, die angeblich zu einer Sekte geflüchtet war, vor das Wohnhaus „oben“.
In diesem „oben“führte er mit seiner Frau Rosemarie und ebenfalls sieben Kindern ein „normales“Leben. Auch Elisabeth war früher Teil dieses Lebens. Dieser Familie. Zu einer Zeit, als Josef F. der Weltöffentlichkeit noch nicht als Inzestmonster, Despot oder Inbegriff des Bösen bekannt war. Einer Zeit, als ihn Elisabeth noch Papa nannte.
Das perfide wie perfekte Doppelleben des Josef F. zählt zu einem der größten Kriminalfälle in Österreich. Und wohl auch weltweit.
Eine internationale Medienkarawane berichtet vor zehn Jahren vom Ort des Verbrechens: aus der Ybbsstraße im niederösterreichischen Amstetten. Einer, der Teil dieser internationalen Reporterschar war, war der britische Journalist Greg Milam. „Ich habe nie zuvor und auch danach nicht mehr über so ein schreckliches Ereignis berichtet. Bei jedem neuen Detail, das bekannt wurde, dachte man: Okay, jetzt kann es nicht mehr schlimmer werden, doch genau das Gegenteil war der Fall“, erinnert sich Milam, der heute als Amerika-Korrespondent für den britischen 24-Stunden-Nachrichtensender Sky News arbeitet. Gemeint sind Details wie Videos, die F. im Thailand-Urlaub zeigten, während seine Familie im Keller litt, oder der Prozess, in dem F. ein völlig überraschendes Schuldeingeständnis ablegte.
Milam, der bereits für den Fall Kampusch in Österreich war und später auch über mehrere ähnliche Fälle in Amerika mit verschwundenen und missbrauchten Kindern berichten sollte, will keinen Vergleich zwischen den Verbrechen ziehen: „Jeder Fall ist schrecklich, aber jeder ist auch anders. Die Frage, die sich mir manchmal stellt, ist: Wie viele vermisste Personen gibt es noch da draußen, die vielleicht von irgendjemandem gefangen gehalten werden, Schreckliches erleben und auf ihre Befreiung warten?“, sagt Milam.
Publik wurde der Fall F. im Jahr 2008, als das älteste im Verlies lebende Kind, die 19jährige Kerstin, schwer erkrankte und von Josef F. ins Spital gebracht wurde. Zum ersten Mal erblickte die 19-Jährige das Tageslicht und mit ihrem Auftauchen erfuhr die Welt von jenem Horror, der sich 24 Jahre lang in dem rund 60 Quadratmeter großen Verlies zugetragen hatte. Ein Versteck, das über einen kleinen Einstieg hinter einem Regal zu erreichen war. Versperrt durch eine Stahltür, die sich nur per Fernbedienung und mit einem Zahlencode öffnen ließ. Durch einen etwa fünf Meter langen Gang und ein Schlupfloch gelangte man dann in ein etwa 1,70 Meter hohes Zimmer, wo sich eine veraltete Kochmöglichkeit sowie eine Toiletten- und Duschanlage befanden. Kein Tageslicht. Nur ein Fernseher, der den Kindern eine vom Leben außerhalb des Verlieses gab.
Omar Haijawi-Pirchner, heute Leiter des Landeskriminalamts Niederösterreich, war damals der jüngste Mordermittler jener Beamten, die als Erste das Verlies von Josef F. betraten und die darin lebenden Kinder befreiten. „Es war ein Wahnsinn. Im Keller hat scheinbar jede Luft zum Atmen gefehlt, weil die Raumhöhe so gering war“, erinnerte sich Haijawi-Pirchner in einem früheren Interview mit den SN.
Heute leben die Kinder gemeinsam mit ihrer Mutter unter neuen Identitäten an einem geheimen Ort. Anders als im Fall Kampusch gab es nie Kontakt zu Medien. Auch wenn Rekordsummen für die ersten Fotos der Familie geboten wurden. Das Haus in der Ybbsstraße wurde verkauft, der Keller im Jahr 2013 zubetoniert.
F. selbst wurde 2009 wegen Mordes durch Unterlassung, Sklavenhandels, Freiheitsentziehung, Vergewaltigung, Blutschande und schwerer Nötigung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Er befindet sich in der Justizanstalt Stein, einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Und hat mittlerweile einen neuen Nachnamen angenommen.
Eine der Fragen, die auch zehn Jahre nach dem Verbrechen bleiben, lautet: Wie war es F. Idee möglich, 24 Jahre lang mit dieser „Schuld“zu leben? „Indem er eine sehr ausgeprägte Fähigkeit besaß, unterschiedliche Bereiche klar voneinander zu trennen. Er hatte die Fähigkeit, nicht an das Leben im Keller zu denken, wenn er heroben war. Es war dieses NichtWahrnehmen, wenn er nicht unmittelbar mit der Situation konfrontiert war“, erklärte Adelheid Kastner, Primarärztin der Klinik für Psychiatrie mit forensischem Schwerpunkt am Kepler-Universitätsklinikum Linz. Sie begutachtete Josef F. In sechs Gesprächen kam sie zu dem Schluss, dass F. „voll zurechnungsfähig“sei.
Und dann gibt es noch diese andere, zwingende Frage: Warum hat niemand – weder die Ehefrau von F. noch die Nachbarn noch Besucher – etwas von dem Verbrechen bemerkt? 21 Mal war die Jugendwohlfahrt zwischen 1993 – damals wurde das erste Baby „oben“abgelegt – und 2008 im Haus gewesen. Nie sei Ungewöhnliches bemerkt worden. All das in einem kleinen Ort wie Amstetten, wo jeder jeden kennt. Mitten am Land.
Die Antwort gab Psychiaterin Adelheid Kastner einst in einem SN-Interview. „Man sieht, was man weiß. Und was man sich nicht vorstellen kann, weiß man nicht.“
Zu einmalig, zu monströs, zu unbegreiflich war das, was sich 2008 in der Ybbsstraße zutrug.