Europa funktioniert nach dem Musketier-Prinzip
Besser, alle stehen füreinander ein als jeder für sich allein. Das ist – wieder – die Erkenntnis am Ende von 17 Monaten Brexit-Verhandlungen.
Einer für alle, alle für einen!“So lautet der Wahlspruch der drei Musketiere, die sich durch Alexandre Dumas’ berühmten Roman und unzählige Mantel-undDegen-Filme fechten. Er könnte als Motto gedient haben für die Art und Weise, wie die EU den Austritt Großbritanniens bewältigt. Einer führt für alle 27 Staaten die Verhandlungen. Dass dieser eine auch noch Franzose ist, passt schön ins Bild.
Michel Barnier, dem EU-Chefverhandler, ist es gelungen, 27 Staaten auf einer Linie zu halten. Er war der eine, der für alle anderen agierte, nachdem er von diesen das Mandat dazu erhalten hatte. Alle anderen Mitspieler – die Staats- und Regierungschefs, die EU-Abgeordneten, die Kommissare – hielten sich daran. Sie blieben, welch Wunder, einig. So wurde Wirklichkeit, was ansonsten als Vision in Sonntagsreden beschworen wird: Die EU sprach mit einer Stimme.
Das gelang, weil die Nationalstaaten eigene Interessen zurückstellten. Dabei hätte es genügend Gelegenheiten gegeben, mit dem Brexit-Thema im eigenen Land politisches Kleingeld zu münzen.
Die polnische Regierung beispielsweise hätte sich starkmachen können für die Landsleute, die zu Hunderttausenden zum Arbeiten nach Großbritannien gegangen waren. Die Regierungen der Beneluxstaaten, die wirtschaftlich sehr stark mit Großbritannien verflochten sind, hätten sich zu Schutzmächten für die Interessen ihrer Unternehmen stilisieren können. Ungarn, das wegen des Abbaus rechtsstaatlicher Standards in der Kritik der meisten anderen EUStaaten steht, hätte sich durch Parteinahme für Großbritannien rächen können.
Alle widerstanden solchen Versuchungen. Der Grund dafür war wohl der Schock, der nach dem Brexit-Votum der Briten im Sommer 2016 eingetreten war. Die Angst, das Beispiel könnte Schule machen und der Brexit der Anfang vom Ende der Union sein, schweißte zusammen.
Eine Angst übrigens, die im Moment unbegründet erscheint: Angesichts des Chaos, das in Großbritannien herrscht, und der negativen Auswirkungen, die für jeden einzelnen Lebensbereich erwartet werden, liebäugelt niemand auf dem Kontinent mehr mit einem Austritt. Und wer es, wie Teile der FPÖ, einst tat, will nicht mehr daran erinnert werden.
Die Zustimmung unter der Bevölkerung zur EU war lang nicht mehr so hoch. Man mag sie nicht immer lieben, aber man hält sie für notwendig, ja unverzichtbar. Am Beispiel Großbritanniens zeigt sich gerade, dass der beste Vertrag, den man verhandeln kann, ein Beitrittsvertrag zur EU ist. Nach wie vor will eine Reihe von Ländern hinein in diesen Klub – von den Westbalkanstaaten bis zur Türkei.
Das Format, wonach einer für alle anderen in einem fest umrissenen Rahmen handelt, wurde zwar extra für den Brexit entwickelt. Man wird diese Methode, wie gesagt, nicht so schnell auf einen neuen Scheidungsfall anwenden müssen. Aber sie lässt sich für andere, klar umrissene Problemfelder adaptieren.
Ihr größter Erfolg aber ist, dass die Brexit-Verhandlungen gezeigt haben, worin die Stärke und Einzigartigkeit der Union liegen: im Reden, im Verhandeln, im Ausgleich von Interessen.
Großbritannien wurde nie als Feind gesehen, sondern als Partner. Es ging nicht darum, das Königreich niederzuringen oder gar zu demütigen, auch wenn das Hardliner-Brexiteers nun behaupten. Die 27 in der Union verbleibenden Staaten sind den Briten – auch im eigenen Interesse – so weit entgegengekommen, wie es möglich war, ohne die eigene Basis zu zerstören. Und diese Basis besteht aus der Übereinkunft, dass gemeinsame Rechte und Privilegien nur teilen kann, wer sich auch an die gemeinsamen Regeln und Werte hält. Und Solidarität übt: einer für alle und alle für einen eben.
In der Flüchtlingskrise vergaßen das die meisten, weil es zu Hause keine Stimmen bringt. Und weil es schon noch irgendwie ging, solange Länder wie Deutschland, Schweden und auch Österreich Lasten für andere mittrugen. Flucht- und Migrationsströme stellten und stellen Europa zwar vor große Probleme. Aber sie werden noch nicht als existenzielle Bedrohung für den Bestand der Union gesehen.
Als solche wurde das Brexit-Referendum empfunden. Und deshalb setzte sich diesmal die Erkenntnis durch: Besser, alle stehen füreinander ein als jeder für sich allein.