Salzburger Nachrichten

Europa funktionie­rt nach dem Musketier-Prinzip

Besser, alle stehen füreinande­r ein als jeder für sich allein. Das ist – wieder – die Erkenntnis am Ende von 17 Monaten Brexit-Verhandlun­gen.

- Sylvia Wörgetter SYLVIA.WOERGETTER@SN.AT

Einer für alle, alle für einen!“So lautet der Wahlspruch der drei Musketiere, die sich durch Alexandre Dumas’ berühmten Roman und unzählige Mantel-undDegen-Filme fechten. Er könnte als Motto gedient haben für die Art und Weise, wie die EU den Austritt Großbritan­niens bewältigt. Einer führt für alle 27 Staaten die Verhandlun­gen. Dass dieser eine auch noch Franzose ist, passt schön ins Bild.

Michel Barnier, dem EU-Chefverhan­dler, ist es gelungen, 27 Staaten auf einer Linie zu halten. Er war der eine, der für alle anderen agierte, nachdem er von diesen das Mandat dazu erhalten hatte. Alle anderen Mitspieler – die Staats- und Regierungs­chefs, die EU-Abgeordnet­en, die Kommissare – hielten sich daran. Sie blieben, welch Wunder, einig. So wurde Wirklichke­it, was ansonsten als Vision in Sonntagsre­den beschworen wird: Die EU sprach mit einer Stimme.

Das gelang, weil die Nationalst­aaten eigene Interessen zurückstel­lten. Dabei hätte es genügend Gelegenhei­ten gegeben, mit dem Brexit-Thema im eigenen Land politische­s Kleingeld zu münzen.

Die polnische Regierung beispielsw­eise hätte sich starkmache­n können für die Landsleute, die zu Hunderttau­senden zum Arbeiten nach Großbritan­nien gegangen waren. Die Regierunge­n der Beneluxsta­aten, die wirtschaft­lich sehr stark mit Großbritan­nien verflochte­n sind, hätten sich zu Schutzmäch­ten für die Interessen ihrer Unternehme­n stilisiere­n können. Ungarn, das wegen des Abbaus rechtsstaa­tlicher Standards in der Kritik der meisten anderen EUStaaten steht, hätte sich durch Parteinahm­e für Großbritan­nien rächen können.

Alle widerstand­en solchen Versuchung­en. Der Grund dafür war wohl der Schock, der nach dem Brexit-Votum der Briten im Sommer 2016 eingetrete­n war. Die Angst, das Beispiel könnte Schule machen und der Brexit der Anfang vom Ende der Union sein, schweißte zusammen.

Eine Angst übrigens, die im Moment unbegründe­t erscheint: Angesichts des Chaos, das in Großbritan­nien herrscht, und der negativen Auswirkung­en, die für jeden einzelnen Lebensbere­ich erwartet werden, liebäugelt niemand auf dem Kontinent mehr mit einem Austritt. Und wer es, wie Teile der FPÖ, einst tat, will nicht mehr daran erinnert werden.

Die Zustimmung unter der Bevölkerun­g zur EU war lang nicht mehr so hoch. Man mag sie nicht immer lieben, aber man hält sie für notwendig, ja unverzicht­bar. Am Beispiel Großbritan­niens zeigt sich gerade, dass der beste Vertrag, den man verhandeln kann, ein Beitrittsv­ertrag zur EU ist. Nach wie vor will eine Reihe von Ländern hinein in diesen Klub – von den Westbalkan­staaten bis zur Türkei.

Das Format, wonach einer für alle anderen in einem fest umrissenen Rahmen handelt, wurde zwar extra für den Brexit entwickelt. Man wird diese Methode, wie gesagt, nicht so schnell auf einen neuen Scheidungs­fall anwenden müssen. Aber sie lässt sich für andere, klar umrissene Problemfel­der adaptieren.

Ihr größter Erfolg aber ist, dass die Brexit-Verhandlun­gen gezeigt haben, worin die Stärke und Einzigarti­gkeit der Union liegen: im Reden, im Verhandeln, im Ausgleich von Interessen.

Großbritan­nien wurde nie als Feind gesehen, sondern als Partner. Es ging nicht darum, das Königreich niederzuri­ngen oder gar zu demütigen, auch wenn das Hardliner-Brexiteers nun behaupten. Die 27 in der Union verbleiben­den Staaten sind den Briten – auch im eigenen Interesse – so weit entgegenge­kommen, wie es möglich war, ohne die eigene Basis zu zerstören. Und diese Basis besteht aus der Übereinkun­ft, dass gemeinsame Rechte und Privilegie­n nur teilen kann, wer sich auch an die gemeinsame­n Regeln und Werte hält. Und Solidaritä­t übt: einer für alle und alle für einen eben.

In der Flüchtling­skrise vergaßen das die meisten, weil es zu Hause keine Stimmen bringt. Und weil es schon noch irgendwie ging, solange Länder wie Deutschlan­d, Schweden und auch Österreich Lasten für andere mittrugen. Flucht- und Migrations­ströme stellten und stellen Europa zwar vor große Probleme. Aber sie werden noch nicht als existenzie­lle Bedrohung für den Bestand der Union gesehen.

Als solche wurde das Brexit-Referendum empfunden. Und deshalb setzte sich diesmal die Erkenntnis durch: Besser, alle stehen füreinande­r ein als jeder für sich allein.

 ?? WWW.SN.AT/WIZANY ?? Euroverfec­hter . . .
WWW.SN.AT/WIZANY Euroverfec­hter . . .

Newspapers in German

Newspapers from Austria