2009 Gerechtigkeit für Deserteure
Jahrzehntelang haben die Männer, die sich dem Dienst in der Wehrmacht entzogen, auf Rehabilitierung gewartet. Erst das Jahr 2009 brachte die Wende. Viele haben diese späte Gerechtigkeit nicht mehr erlebt.
Als Wehrmachtsdeserteur öffentlich auftreten? Das wagte in Österreich lange Zeit kaum jemand. „Man hätte glauben können, dass es überhaupt keine Deserteure gegeben hat“, schreibt einer von ihnen, Richard Wadani, im Rückblick.
Wehrdienstverweigerer und Deserteure hatten nach 1945 keinen guten Ruf – auch nicht, nachdem die monströsen Verbrechen der Nationalsozialisten ans Tageslicht gekommen waren. „Deserteur war ja vom ersten Tag an ein Schimpfwort“, soagt Wadani. „Und wenn jemand wirtschaftlich Fuß fassen wollte mit Arbeit – also der hat es nicht so gemacht wie ich, wo ich bei den Bewerbungen reingeschrieben hab, dass ich Wehrmachtsdeserteur bin und dann keine Arbeit bekommen hab(...) Also, so war damals die Situation – als ob du die Cholera hättest.“
Richard Wadani, in den 1920er-Jahren als Sohn österreichischer Eltern in Prag aufgewachsen, sympathisierte schon in seinen Jugendjahren mit den Kommunisten. Während seiner Zeit als Besatzungssoldat der Wehrmacht in der Sowjetunion, in den Jahren 1941 bis 1944, unterstützte er dortige Partisanenbewegungen. Im Oktober 1944 lief er an der Westfront zu den Amerikanern über.
Doch für ihren Entschluss, sich nicht mehr an den Feldzügen der Wehrmacht zu beteiligen, wurden Wadani und die anderen Deserteure nach dem Krieg jahrzehntelang schief angeschaut. Desertion – das war in der Nachkriegszeit ein Tabuthema.
Die Wende kam erst im Oktober 2009, als im Nationalrat mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP und Grünen das „Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz“beschlossen wurde. Damit wurden alle Unrechtsurteile gegen Deserteure und andere Verfolgte der Wehrmachtgerichte endgültig aufgehoben. Die Betroffenen wurden offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt, ebenso alle Personen, die als Homosexuelle verfolgt worden waren, und Frauen, die während des Nationalsozialismus von Zwangssterilisierungen betroffenen waren.
Nun wagten es manche, die im Zweiten Weltkrieg Fahnenflucht begangen hatten, aus der Deckung zu kommen. „Erst 2009, nach der Rehabilitierung, da haben sich dann ein paar gemeldet, aber da haben auch nicht mehr viele gelebt“, erinnert sich Wadani im Buch „Richard Wadani. Eine politische Biografie“(Milena Verlag, 2015).
Das Entscheidende des Parlamentsbeschlusses vom Oktober 2009 sei gewesen, dass die Republik Österreich damit den Betroffenen „Achtung und Anerkennung“ausgesprochen habe und dass eine pauschale Rehabilitierung ohne Einzelfallprüfung beschlossen worden sei, sagt Thomas Geldmacher, Politologe und Nachfolger Wadanis als Obmann des Personenkomitees „Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz“. Ungeachtet der jeweiligen Beweggründe wurde die Desertion aus der Wehrmacht als „richtige“Tat anerkannt.
Motive für die Fahnenflucht gab es viele. Ein möglicher Beweggrund war die Sorge um die eigene Familie, auch politische und weltanschauliche Motive oder einfach eine günstige Gelegenheit zur Flucht konnten ausschlaggebend sein.
Was die von der NS-Militärjustiz verhängten Todesurteile betrifft, fehlen gesicherte Zahlen. Experten gehen davon aus, dass im Gebiet des Deutschen Reichs insgesamt 25.000 Todesurteile über Deserteure verhängt wurden. 1200 bis 1400 Österreicher wurden als Deserteure hingerichtet. Konkrete Zahlen gebe es nicht, weil 1945 bei einem Bombentreffer viele Akten im Heeresarchiv Potsdam verloren gegangen seien, sagt Geldmacher.
Der Rehabilitierung im Jahr 2009 waren lange Diskussionen vorausgegangen, die Ende der 1990er-Jahre begonnen hatten. 2005 trat das Gesetz zur „abschließenden Beseitigung nationalsozialistischer Unrechtsakte“, das NS-Anerkennungsgesetz, in Kraft. Damit wurden die Verfolgten der NS-Militärjustiz in den Kreis der Opferfürsorgeberechtigten aufgenommen. 2009 folgte das Rehabilitationsgesetz, fünf Jahre später wurde am Ballhausplatz das Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz eröffnet. Die Erfahrung dieser späten Gerechtigkeit machten allerdings nur noch wenige jener Männer, die sich dem Dienst in der Wehrmacht entzogen hatten. Wie viele von ihnen heute noch am Leben seien, wisse er nicht, sagt Geldmacher. Die Zahl der noch lebenden österreichischen Deserteure entspreche wohl „der eines Kegelvereins“.
Richard Wadani arbeitete nach dem Krieg zunächst für die KPÖ, später als Sportlehrer und Trainer der österreichischen Volleyballnationalmannschaft. Der Rehabilitierungsprozess wie auch die Verwirklichung des Deserteursdenkmals sind vorwiegend auf sein Engagement zurückzuführen. Der Tag der Denkmalseröffnung, der 24. Oktober 2014, sollte schließlich für ihn der krönende Abschluss des langen Ringens um Anerkennung werden. Es war ein Tag, der ihm „nicht nur Freude, sondern auch eine gewisse Genugtuung“brachte.