Die Lust geht nicht in Pension
Zweisamkeit, Zärtlichkeit, Kuscheln. Sexualassistenz verhilft Pflegebedürftigen zu selbstbestimmter Sexualität. Die Rechtslage ist unbefriedigend.
Anfangs sei sie bei ihren Besuchen in Seniorenheimen überrascht gewesen, „was da so alles abgeht zwischen den Bewohnern“, sagt Marén Herrmann. „Die Menschen werfen im Alter oft die Konventionen über Bord und zeigen offen ihre sexuellen Bedürfnisse.“Selbstbefriedigung sei ein großes Thema. Immer wieder habe sie auch miterlebt, dass die sexuelle Neigung im Alter umschwinge und Bewohner das Interesse am gleichen Geschlecht entdeckten. Vor allem junge Pflegekräfte seien mit solchen Situationen völlig überfordert.
Bis vor vier Jahren war die 49-jährige Deutsche als kaufmännische Angestellte tätig. Seit 2014 arbeitet sie als Sachsens derzeit einzige Sexualassistentin und Sexualbegleiterin. Sie erfüllt Senioren, aber auch Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung gegen Bezahlung den Wunsch nach körperlicher Nähe. „Die meisten meiner Klienten im Seniorenheim sind Witwer“, sagt Herrmann und stellt eines klar: „Ich bin keine Prostituierte, hinter meiner Arbeit steckt eine fundierte Ausbildung.“Ihr Beruf erfordere Zeit, Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft, sich mit den Menschen auseinanderzusetzen. „Der Bedarf ist da, und er ist groß.“
Ihre Klienten nennen Herrmann kurz Mary. Ihre sexuelle Dienstleistung umfasst weder Oral- noch Geschlechtsverkehr. Darum geht es den meisten Senioren auch gar nicht. „Alte Menschen haben ganz andere Bedürfnisse, sie haben Sehnsucht nach einem Frauenkörper, nach Berührung, Kuscheln und Streicheln.“Der Intimbereich stehe nicht im Zentrum. „Die Älteren wollen kein Sexspielzeug, die wollen angefasst werden oder sich mal an meine Brust legen, die Sehnsucht nach Nähe ist groß.“Immer wieder habe sie mit Menschen zu tun, die ihr ganzes Leben keine Liebe und Zuwendung erfahren hätten. Sie empfinde ihre Arbeit als sinnstiftend und sehe sie als Beitrag, das Bewusstsein für das Thema Sexualität und Alter zu verändern.
Am wichtigsten seien die Vorgespräche. „Es muss eine Vertrauensbasis da sein, ich möchte, dass wir uns persönlich kennenlernen, dass wir uns in die Augen schauen.“ Das Erstgespräch ist kostenlos. Herrmann versucht, so viele Menschen wie möglich einzubeziehen: das Pflegepersonal, die Heimleitung und die Angehörigen. „Es ist wichtig, dass ich respektiert werde, ich möchte auf keinen Fall durch die Hintertür geschleust werden, das läuft alles offiziell ab.“Die Besuche werden in der Krankenakte vermerkt, auch ein Nachgespräch findet statt. Und Herrmann stellt eine Rechnung aus. Der Preis variiert je nach Klient und Situation. „Ich werbe nicht, ich werde angefragt oder empfohlen.“
Die Reaktion aller Beteiligten bestärke sie in ihrem Beruf. Die Senioren seien glücklich und dankbar. „Auch Demenzkranke erkennen mich und freuen sich. Wenn es heißt, die Mary ist da, werden sie sofort wach, die Augen werden groß.“Das sei wunderbar. „Ich finde es faszinierend, egal ob geistig behindert oder dement, die Bewohner können sich meinen Namen merken oder schreiben ihn sich auf, damit sie ihn nicht vergessen, das ist rührend.“Das Pflegepersonal fühle sich entlastet, weil die Bewohner ausgeglichener seien und weniger Medikamente bräuchten. Oft würden den Bewohnern Psychopharmaka verabreicht, um ihre Lust zu unterdrücken. Das mache in gewissen Fällen Sinn, „aber häufig kann man das anders lösen“.
Auch in Österreich sei der Bedarf nach Sexualassistenz groß, sagt Margit Schmiedbauer vom Verein Alpha Nova in Graz. Dort ist auch die Fachstelle „hautnah“angesiedelt, eine Anlaufstelle für beeinträchtigte Menschen, die ihre Sexualität selbstbestimmt leben möchten. Bis Mai 2017 hat die Fachstelle, gefördert vom Land Steiermark und dem Bund, 18 Sexualassistentinnen und -assistenten ausgebildet. Schlagartig war damit Schluss, weil die Behörden deren Tätigkeit plötzlich unter Prostitution subsumierten, obwohl weder Geschlechtsverkehr noch Oralsex erlaubt waren. Somit gelten die Gesetze für Prostitution, die jedes Bundesland anders regelt. Die Ausgebildeten hätten sich registrieren lassen müssen, obwohl sie keine Sexarbeit im klassischen Sinn verrichtet haben. „Fast alle haben aufgehört“, sagt Schmiedbauer.
Als eine der wenigen ist noch die klinische Sexologin Monika Noisternig aus Wien als Sexualbegleiterin aktiv. „Ich arbeite in einer Grauzone, wir sind da und dort geduldet, aber wir sind nicht rechtlich abgesichert.“Sie fordert ein eigenes Gesetz für Sexualassistenz. Der Bedarf sei enorm. „Die Libido geht ja nicht mit in Pension, die Leute wollen schöne Erlebnisse. “Sie deklariere sich nicht als Prostituierte und habe ihr Angebot stark eingeschränkt. „Ich bin Kuscheltherapeutin und decke damit 90 Prozent der Bedürfnisse der alten Menschen ab.“
Sexualassistenz sei sinnvoll und wünschenswert, sagt Andrea Sigl, Leiterin des städtischen Seniorenwohnhauses Hellbrunn in Salzburg. „Es ist ein Irrglaube, dass das Lustgefühl und der Wunsch nach körperlicher Nähe mit dem Alter verloren gehen.“Im Gegenteil. „Viele demente Menschen zeigen ihre Lust unverblümt, weil mit der Demenz das Schamgefühl und Hemmungen fallen können. Gesellschaftlich anerlernte Schranken und Tabus fallen weg.“Immer wieder erlebt Sigl mit, dass sich Bewohner im Heim neu verlieben. „Wenn beide Sex wollen, sollen sie ihn leben dürfen.“Oberste Priorität habe aber, Bewohner vor Übergriffen zu schützen. „Wir stehen immer wieder vor schwierigen Entscheidungen.“ In Einzelfällen lassen sich alleinstehende Bewohner samt Rollator mit dem Taxi ins Bordell fahren. „Schwierig wird es, wenn die Angehörigen über das Geld verfügen und nicht der alte Mensch selbst“, sagt Sigl. Vor wenigen Tagen habe die Fußpflegerin, die ins Haus kommt, schockiert das Personal alarmiert. Ein Bewohner hatte während der Pediküre einen Pornofilm laufen lassen und musste darauf hingewiesen werden, dass dies gerade unpassend sei.
Gemeinhin werde unterschätzt, dass Sexualität ein Grundbedürfnis sei, das mit dem Alter keineswegs verschwinde, betont auch Manfred Hörwarter, Demenzberater und Leiter der Tagesbetreuung des Diakoniewerks in Salzburg-Gnigl. Dieses Bedürfnis müsse man ernst nehmen. „Es geht nicht nur um Geschlechtsverkehr, es geht um Liebe, Sinnlichkeit, Berührung und Vertrauen.“Das Thema Sexualität im Alter werde meistens unter der Decke gehalten. Wie Sigl plädiert Hörwarter dafür, offen darüber zu reden. Deshalb hat er jetzt in Salzburg einen Vortrag über Sexualität und Demenz gehalten. „Menschen mit Demenz leben im Hier und Jetzt und sind auf die eigenen Bedürfnisse konzentriert“, erklärt er. Bei vielen verschwinde das sexuelle Interesse, bei anderen hingegen sei ein gesteigertes Verlangen zu bemerken. „Die Bewohner können auch zudringlich oder anzüglich werden.“Das Personal erlebe immer wieder verbale, aber auch körperliche Grenzverletzungen. Sexualassistenz würde helfen.
Auch die Angehörigen seien oft überfordert. Kürzlich habe er erlebt, wie eine Mutter begonnen habe, mit ihrem Sohn zu flirten, weil sie ihn nicht mehr erkannt habe. Hörwarter rät, das Thema aus der Tabuzone zu holen. Andrea Sigl diskutiert immer wieder mit den Söhnen und Töchtern von Heimbewohnern. „Für viele ist die Sexualität von Vater und Mutter ein schwieriges Thema, sie wollen, dass ich für Zucht und Ordnung sorge.“Sigl vertritt jedoch die Ansicht, dass jeder das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung habe. Sexualbegleiterin Monika Noisternig ist überzeugt, dass sich das Thema nicht aufhalten lässt. „Spätestens wenn die Babyboomer in die Heime einziehen, werden sie ihr Recht auf Sexualität einfordern.“Davon ist auch Herrmann überzeugt: „Ich bin mal gespannt, was passiert, wenn die 68er-Generation kommt.“