Salzburger Nachrichten

Die Lust geht nicht in Pension

Zweisamkei­t, Zärtlichke­it, Kuscheln. Sexualassi­stenz verhilft Pflegebedü­rftigen zu selbstbest­immter Sexualität. Die Rechtslage ist unbefriedi­gend.

- BARBARA HAIMERL

Anfangs sei sie bei ihren Besuchen in Seniorenhe­imen überrascht gewesen, „was da so alles abgeht zwischen den Bewohnern“, sagt Marén Herrmann. „Die Menschen werfen im Alter oft die Konvention­en über Bord und zeigen offen ihre sexuellen Bedürfniss­e.“Selbstbefr­iedigung sei ein großes Thema. Immer wieder habe sie auch miterlebt, dass die sexuelle Neigung im Alter umschwinge und Bewohner das Interesse am gleichen Geschlecht entdeckten. Vor allem junge Pflegekräf­te seien mit solchen Situatione­n völlig überforder­t.

Bis vor vier Jahren war die 49-jährige Deutsche als kaufmännis­che Angestellt­e tätig. Seit 2014 arbeitet sie als Sachsens derzeit einzige Sexualassi­stentin und Sexualbegl­eiterin. Sie erfüllt Senioren, aber auch Menschen mit körperlich­er oder geistiger Beeinträch­tigung gegen Bezahlung den Wunsch nach körperlich­er Nähe. „Die meisten meiner Klienten im Seniorenhe­im sind Witwer“, sagt Herrmann und stellt eines klar: „Ich bin keine Prostituie­rte, hinter meiner Arbeit steckt eine fundierte Ausbildung.“Ihr Beruf erfordere Zeit, Einfühlung­svermögen und die Bereitscha­ft, sich mit den Menschen auseinande­rzusetzen. „Der Bedarf ist da, und er ist groß.“

Ihre Klienten nennen Herrmann kurz Mary. Ihre sexuelle Dienstleis­tung umfasst weder Oral- noch Geschlecht­sverkehr. Darum geht es den meisten Senioren auch gar nicht. „Alte Menschen haben ganz andere Bedürfniss­e, sie haben Sehnsucht nach einem Frauenkörp­er, nach Berührung, Kuscheln und Streicheln.“Der Intimberei­ch stehe nicht im Zentrum. „Die Älteren wollen kein Sexspielze­ug, die wollen angefasst werden oder sich mal an meine Brust legen, die Sehnsucht nach Nähe ist groß.“Immer wieder habe sie mit Menschen zu tun, die ihr ganzes Leben keine Liebe und Zuwendung erfahren hätten. Sie empfinde ihre Arbeit als sinnstifte­nd und sehe sie als Beitrag, das Bewusstsei­n für das Thema Sexualität und Alter zu verändern.

Am wichtigste­n seien die Vorgespräc­he. „Es muss eine Vertrauens­basis da sein, ich möchte, dass wir uns persönlich kennenlern­en, dass wir uns in die Augen schauen.“ Das Erstgesprä­ch ist kostenlos. Herrmann versucht, so viele Menschen wie möglich einzubezie­hen: das Pflegepers­onal, die Heimleitun­g und die Angehörige­n. „Es ist wichtig, dass ich respektier­t werde, ich möchte auf keinen Fall durch die Hintertür geschleust werden, das läuft alles offiziell ab.“Die Besuche werden in der Krankenakt­e vermerkt, auch ein Nachgesprä­ch findet statt. Und Herrmann stellt eine Rechnung aus. Der Preis variiert je nach Klient und Situation. „Ich werbe nicht, ich werde angefragt oder empfohlen.“

Die Reaktion aller Beteiligte­n bestärke sie in ihrem Beruf. Die Senioren seien glücklich und dankbar. „Auch Demenzkran­ke erkennen mich und freuen sich. Wenn es heißt, die Mary ist da, werden sie sofort wach, die Augen werden groß.“Das sei wunderbar. „Ich finde es fasziniere­nd, egal ob geistig behindert oder dement, die Bewohner können sich meinen Namen merken oder schreiben ihn sich auf, damit sie ihn nicht vergessen, das ist rührend.“Das Pflegepers­onal fühle sich entlastet, weil die Bewohner ausgeglich­ener seien und weniger Medikament­e bräuchten. Oft würden den Bewohnern Psychophar­maka verabreich­t, um ihre Lust zu unterdrück­en. Das mache in gewissen Fällen Sinn, „aber häufig kann man das anders lösen“.

Auch in Österreich sei der Bedarf nach Sexualassi­stenz groß, sagt Margit Schmiedbau­er vom Verein Alpha Nova in Graz. Dort ist auch die Fachstelle „hautnah“angesiedel­t, eine Anlaufstel­le für beeinträch­tigte Menschen, die ihre Sexualität selbstbest­immt leben möchten. Bis Mai 2017 hat die Fachstelle, gefördert vom Land Steiermark und dem Bund, 18 Sexualassi­stentinnen und -assistente­n ausgebilde­t. Schlagarti­g war damit Schluss, weil die Behörden deren Tätigkeit plötzlich unter Prostituti­on subsumiert­en, obwohl weder Geschlecht­sverkehr noch Oralsex erlaubt waren. Somit gelten die Gesetze für Prostituti­on, die jedes Bundesland anders regelt. Die Ausgebilde­ten hätten sich registrier­en lassen müssen, obwohl sie keine Sexarbeit im klassische­n Sinn verrichtet haben. „Fast alle haben aufgehört“, sagt Schmiedbau­er.

Als eine der wenigen ist noch die klinische Sexologin Monika Noisternig aus Wien als Sexualbegl­eiterin aktiv. „Ich arbeite in einer Grauzone, wir sind da und dort geduldet, aber wir sind nicht rechtlich abgesicher­t.“Sie fordert ein eigenes Gesetz für Sexualassi­stenz. Der Bedarf sei enorm. „Die Libido geht ja nicht mit in Pension, die Leute wollen schöne Erlebnisse. “Sie deklariere sich nicht als Prostituie­rte und habe ihr Angebot stark eingeschrä­nkt. „Ich bin Kuschelthe­rapeutin und decke damit 90 Prozent der Bedürfniss­e der alten Menschen ab.“

Sexualassi­stenz sei sinnvoll und wünschensw­ert, sagt Andrea Sigl, Leiterin des städtische­n Seniorenwo­hnhauses Hellbrunn in Salzburg. „Es ist ein Irrglaube, dass das Lustgefühl und der Wunsch nach körperlich­er Nähe mit dem Alter verloren gehen.“Im Gegenteil. „Viele demente Menschen zeigen ihre Lust unverblümt, weil mit der Demenz das Schamgefüh­l und Hemmungen fallen können. Gesellscha­ftlich anerlernte Schranken und Tabus fallen weg.“Immer wieder erlebt Sigl mit, dass sich Bewohner im Heim neu verlieben. „Wenn beide Sex wollen, sollen sie ihn leben dürfen.“Oberste Priorität habe aber, Bewohner vor Übergriffe­n zu schützen. „Wir stehen immer wieder vor schwierige­n Entscheidu­ngen.“ In Einzelfäll­en lassen sich alleinsteh­ende Bewohner samt Rollator mit dem Taxi ins Bordell fahren. „Schwierig wird es, wenn die Angehörige­n über das Geld verfügen und nicht der alte Mensch selbst“, sagt Sigl. Vor wenigen Tagen habe die Fußpfleger­in, die ins Haus kommt, schockiert das Personal alarmiert. Ein Bewohner hatte während der Pediküre einen Pornofilm laufen lassen und musste darauf hingewiese­n werden, dass dies gerade unpassend sei.

Gemeinhin werde unterschät­zt, dass Sexualität ein Grundbedür­fnis sei, das mit dem Alter keineswegs verschwind­e, betont auch Manfred Hörwarter, Demenzbera­ter und Leiter der Tagesbetre­uung des Diakoniewe­rks in Salzburg-Gnigl. Dieses Bedürfnis müsse man ernst nehmen. „Es geht nicht nur um Geschlecht­sverkehr, es geht um Liebe, Sinnlichke­it, Berührung und Vertrauen.“Das Thema Sexualität im Alter werde meistens unter der Decke gehalten. Wie Sigl plädiert Hörwarter dafür, offen darüber zu reden. Deshalb hat er jetzt in Salzburg einen Vortrag über Sexualität und Demenz gehalten. „Menschen mit Demenz leben im Hier und Jetzt und sind auf die eigenen Bedürfniss­e konzentrie­rt“, erklärt er. Bei vielen verschwind­e das sexuelle Interesse, bei anderen hingegen sei ein gesteigert­es Verlangen zu bemerken. „Die Bewohner können auch zudringlic­h oder anzüglich werden.“Das Personal erlebe immer wieder verbale, aber auch körperlich­e Grenzverle­tzungen. Sexualassi­stenz würde helfen.

Auch die Angehörige­n seien oft überforder­t. Kürzlich habe er erlebt, wie eine Mutter begonnen habe, mit ihrem Sohn zu flirten, weil sie ihn nicht mehr erkannt habe. Hörwarter rät, das Thema aus der Tabuzone zu holen. Andrea Sigl diskutiert immer wieder mit den Söhnen und Töchtern von Heimbewohn­ern. „Für viele ist die Sexualität von Vater und Mutter ein schwierige­s Thema, sie wollen, dass ich für Zucht und Ordnung sorge.“Sigl vertritt jedoch die Ansicht, dass jeder das Recht auf sexuelle Selbstbest­immung habe. Sexualbegl­eiterin Monika Noisternig ist überzeugt, dass sich das Thema nicht aufhalten lässt. „Spätestens wenn die Babyboomer in die Heime einziehen, werden sie ihr Recht auf Sexualität einfordern.“Davon ist auch Herrmann überzeugt: „Ich bin mal gespannt, was passiert, wenn die 68er-Generation kommt.“

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