Mehrdeutigkeitsfähigkeit
Resilienz ist die Fähigkeit, nach einem Fall wieder aufzustehen, sich auch unter Widerständen behaupten zu können, vielleicht sogar angesichts von Herausforderungen zu blühen. Die Psychologin Pauline Boss hat einen wichtigen Faktor für Resilienz in der Fähigkeit ausgemacht, mit Ambivalenz, mit „Uneindeutigkeit“umzugehen. Frau Boss arbeitet mit Familien, die ein Familienmitglied vermissen, etwa nach einem Krieg oder nach Flucht. Die Ungewissheit über das Schicksal des geliebten Menschen ist, wie man sich vorstellen kann, eine enorme Belastung für die Familie. Es kann, so tragisch es klingt, Trost bringen, wenn der Tod gewiss wird, denn in dieser Klarheit kann eine Familie Abschied nehmen. Nicht selten brechen Menschen unter dem Druck der Ungewissheit zusammen, ihre Gedanken kreisen nur noch um die eine ungelöste Frage. Da ist es Ausdruck von Resilienz, trotz der Ungewissheit den Alltag zu bewältigen und das Leben nicht auf den abwartenden Pausenmodus eng zu führen. Eindeutigkeit, selbst wenn sie schmerzvoll ist wie eine Todesnachricht, kann weniger belastend sein als das quälende Nichtwissen, als die Folter vieler Möglichkeiten. Eindeutigkeit schafft Klarheit und gibt Kraft. Es ist wichtig, in bestimmten Fragen das zu haben, was Susan Neiman „moralische Klarheit“genannt hat. Es ist entscheidend, starke Überzeugungen zu haben, die sich nicht leicht erschüttern lassen. Hier kann ein fester Bezugsrahmen verankert werden, der Entscheidungssicherheit gibt. So viel zum Lob der Eindeutigkeit.
Und doch: Die Suche und Sehnsucht nach Eindeutigkeit kann gefährlich und lebenshemmend sein, kann, wie erwähnt, Resilienz untergraben. Die Unfähigkeit, mit Mehrdeutigkeit umzugehen, kann sich im „Ruf nach dem starken Mann und der starken Frau“, die sagen, was Sache ist, ausdrücken. Der rasante Aufstieg des Populismus (verstanden als: Vorgaukeln einfacher Antworten auf schwierige Fragen) hat wohl auch mit einer Sehnsucht nach Eindeutigkeit zu tun. Wenige grobe Kategorien sind einfacher zu handhaben als viele feine Kategorien. Zwischen Bier und Wein unterscheidet es sich leichter als zwischen zwei Bordeaux-Jahrgängen. Sehnsucht nach Eindeutigkeit finden wir auch in manchen Kreisen der katholischen Kirche, die sich schwer tun, mit Papst Franziskus’ Einladung, die einzelne Situation als besondere Situation anzusehen. Sie wollen die klare Regelung, das einfache Prinzip, die eindeutige Weisung.
Mehrdeutigkeitsfähigkeit ist die Fähigkeit, auf ruhige Weise viele Möglichkeiten zu sehen und differenzierte, feine Urteile zu treffen. Das braucht kein Mangel an Klarheit zu sein. Im Gegenteil: Wer die Komplexität einer Sache und das Besondere an einer Situation sieht, wird sich leichter tun, dem besonderen Fall gerecht zu werden.
Meine Tochter hat mich einmal gefragt, was mein lateinisches Lieblingswort sei. Schöne Frage! Meine Antwort: das lautmalerische Wort „magnanimitas“, Weitherzigkeit, Großherzigkeit.
Es bedeutet, das Bestehen verschiedener Ideen und Meinungen und Möglichkeiten gut aushalten zu können, dabei auch zu blühen. Das ist, in einem Begriff zusammengefasst, die Mehrdeutigkeitsfähigkeit, die wir in Politik wie Kirche nötig haben: eine Weite des Geistes und des Herzens, die mit entsprechender Milde und Umsicht des Urteils einhergeht. Clemens Sedmak