Salzburger Nachrichten

Putin bestimmt das Ausmaß der Eskalation

Aus den Augen, aus dem Sinn? Der Westen muss schockarti­g erkennen: Russland führt weiterhin Krieg gegen die Ukraine.

- Helmut L. Müller HELMUT.MUELLER@SN.AT

Dass die Staatenwel­t alarmiert auf den russischuk­rainischen Zwischenfa­ll in der Meerenge von Kertsch reagiert, zeigt zweierlei. Zum einen befürchtet man eine gefährlich­e Eskalation des Konflikts zwischen den Nachbarlän­dern. Zum anderen sehen wir, wie sehr dieser Streit im Osten der Ukraine aus dem Bewusstsei­n der Öffentlich­keit gerückt ist.

Man hat sich daran gewöhnt, dass in dieser Ecke am Rande Europas ein Konflikt vor sich hinköchelt. Man hat sich selbst mit dem Terminus „eingefrore­ner Konflikt“beruhigt. Aber der Krieg im Donbass geht weiter. Damit dauert dort die russische Einmischun­g an. Bloß hat sich der Fokus des Geschehens, kaum bemerkt von den Beobachter­n, inzwischen in die Gewässer vor der ukrainisch­en Küste verschoben.

Die Annexion der ukrainisch­en Halbinsel Krim ist sozusagen der erste Akt gewesen. Was Russland jetzt an der Nahtstelle von Schwarzem und Asowschem Meer vollführt, ist die Fortsetzun­g dieser völkerrech­tswidrigen Operation. Nach der Besetzung der Krim betrachtet Russland die Gewässer vor der Halbinsel als sein Territoriu­m. Für die Ukraine ist die Annektieru­ng der Krim natürlich nicht rechtens, sie sieht den Küstenbere­ich vor der Krim als ihr Gebiet.

Der zwischenst­aatliche Konflikt wird offenbar aus innenpolit­ischen Motiven neuerlich angeheizt. In Russland kann Präsident Wladimir Putin davon ablenken, dass seine Popularitä­t wegen der sozialen Misere sinkt. In der Ukraine hofft Präsident Petro Poroschenk­o auf größere Wiederwahl-Chancen trotz massiver Korruption und eine stärkere Parteinahm­e des Westens angesichts der russischen Aggression.

Geostrateg­isch ist die Ukraine dem russischen Widerpart stark unterlegen. Putin hat die Eskalation­sdominanz: Er kann den Ukraine-Konflikt nach Belieben wieder anknipsen; er kann damit den Nachbarn destabilis­ieren und von allen Ambitionen einer Entwicklun­g in Richtung Westen abbringen. Anders als noch vor wenigen Jahren, als er das Eingreifen russischer Kämpfer in der Ostukraine als „grüne Männchen“oder „Freiwillig­e auf Urlaub“bemäntelt hat, setzt Putin nun auf offene Machtdemon­stration: Ein einziges Schiff blockiert die Meerenge von Kertsch – und schon ist der ukrainisch­e Hafen Mariupol von Schiffslie­ferungen abgeschnit­ten.

Der Ruf nach einer Deeskalati­on wird laut. Hinzu kommen muss ein neuer Versuch, den Minsker Friedenspl­an für die Ukraine umzusetzen. Zu dem dafür nötigen Druck auf Moskau ist der Westen aber kaum fähig, solange er so uneinig auftritt wie derzeit.

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