Putin bestimmt das Ausmaß der Eskalation
Aus den Augen, aus dem Sinn? Der Westen muss schockartig erkennen: Russland führt weiterhin Krieg gegen die Ukraine.
Dass die Staatenwelt alarmiert auf den russischukrainischen Zwischenfall in der Meerenge von Kertsch reagiert, zeigt zweierlei. Zum einen befürchtet man eine gefährliche Eskalation des Konflikts zwischen den Nachbarländern. Zum anderen sehen wir, wie sehr dieser Streit im Osten der Ukraine aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist.
Man hat sich daran gewöhnt, dass in dieser Ecke am Rande Europas ein Konflikt vor sich hinköchelt. Man hat sich selbst mit dem Terminus „eingefrorener Konflikt“beruhigt. Aber der Krieg im Donbass geht weiter. Damit dauert dort die russische Einmischung an. Bloß hat sich der Fokus des Geschehens, kaum bemerkt von den Beobachtern, inzwischen in die Gewässer vor der ukrainischen Küste verschoben.
Die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim ist sozusagen der erste Akt gewesen. Was Russland jetzt an der Nahtstelle von Schwarzem und Asowschem Meer vollführt, ist die Fortsetzung dieser völkerrechtswidrigen Operation. Nach der Besetzung der Krim betrachtet Russland die Gewässer vor der Halbinsel als sein Territorium. Für die Ukraine ist die Annektierung der Krim natürlich nicht rechtens, sie sieht den Küstenbereich vor der Krim als ihr Gebiet.
Der zwischenstaatliche Konflikt wird offenbar aus innenpolitischen Motiven neuerlich angeheizt. In Russland kann Präsident Wladimir Putin davon ablenken, dass seine Popularität wegen der sozialen Misere sinkt. In der Ukraine hofft Präsident Petro Poroschenko auf größere Wiederwahl-Chancen trotz massiver Korruption und eine stärkere Parteinahme des Westens angesichts der russischen Aggression.
Geostrategisch ist die Ukraine dem russischen Widerpart stark unterlegen. Putin hat die Eskalationsdominanz: Er kann den Ukraine-Konflikt nach Belieben wieder anknipsen; er kann damit den Nachbarn destabilisieren und von allen Ambitionen einer Entwicklung in Richtung Westen abbringen. Anders als noch vor wenigen Jahren, als er das Eingreifen russischer Kämpfer in der Ostukraine als „grüne Männchen“oder „Freiwillige auf Urlaub“bemäntelt hat, setzt Putin nun auf offene Machtdemonstration: Ein einziges Schiff blockiert die Meerenge von Kertsch – und schon ist der ukrainische Hafen Mariupol von Schiffslieferungen abgeschnitten.
Der Ruf nach einer Deeskalation wird laut. Hinzu kommen muss ein neuer Versuch, den Minsker Friedensplan für die Ukraine umzusetzen. Zu dem dafür nötigen Druck auf Moskau ist der Westen aber kaum fähig, solange er so uneinig auftritt wie derzeit.