Salzburger Nachrichten

„Beim Brexit verlieren beide Seiten“

Großbritan­nien verlässt die EU, Europa streitet mit den USA über Zölle und die Migration nährt den Nationalis­mus. Was das für Europas Industrie bedeutet, erklären Pierre Gattaz, Chef von Business Europe, und IV-Präsident Georg Kapsch.

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SN: Großbritan­nien wird sehr wahrschein­lich die EU verlassen. Wie sind Ihre Erwartunge­n bezüglich der künftigen wirtschaft­lichen Beziehunge­n? Pierre Gattaz: Vorab: Der Brexit ist eine Lose-lose-Situation, beide Seiten verlieren. Es ist bedenklich, dass ein Land die EU verlässt. Aber es gab ein Votum und eine Entscheidu­ng, jetzt müssen wir einen sanften Übergang sicherstel­len. Wir begrüßen die Vereinbaru­ng, die auf dem Tisch liegt, und hoffen auf Zustimmung im britischen Parlament. SN: Die Hoffnungen auf ein zweites Referendum sind vorbei? Georg Kapsch: Wir glauben nicht an ein zweites Referendum. Gattaz: Vielleicht ist es eine Variante, wenn es kein Ja zum Plan der Regierung May gibt. Aber wir setzen uns für die Übereinkun­ft ein, denn was auf dem Tisch liegt, ist gut. SN: Was soll nach dem Übergangsz­eitraum kommen? Gattaz: Großbritan­nien bleibt für die EU ein wichtiger Wirtschaft­spartner, wir brauchen eine Vereinbaru­ng, die Wachstum ermöglicht. Weil Wachstum Jobs und Wohlstand bedeutet. Wir müssen alle Beziehunge­n zwischen uns neu definieren, das ist eine komplexe Aufgabe. Aber die Briten sind Freunde und sie werden Freunde bleiben. Kapsch: Es ist beabsichti­gt, dass Großbritan­nien Partner in EU-Programmen bleibt, etwa in der Forschung und Entwicklun­g oder in der Bildung – so wie es Österreich tat, bevor es EU-Mitglied wurde. SN: In Frankreich gibt es Streiks und Proteste gegen die Reformen von Präsident Macron. Ist er auf dem richtigen Weg? Gattaz: Die Reformen in Frankreich sind unerlässli­ch, ähnlich wie die in Deutschlan­d unter Bundeskanz­ler Schröder. Die Maßnahmen der vergangene­n eineinhalb Jahre – die Vereinfach­ung des Arbeitsrec­hts und des Steuersyst­ems, vor allem der Kapitalein­künfte – sind gute Signale. Das Problem ist, dass die Menschen die Ergebnisse der Reformen noch nicht sehen, sie werden erst 2019 zu spüren sein. Man muss etwas Geduld haben und in der Zwischenze­it der Bevölkerun­g erklären, dass es gut ist, dass in Frankreich wieder investiert wird. SN: Finanzmini­ster Le Maire macht sich für die Besteuerun­g digitaler Konzerne stark, Deutschlan­d bremst. Welche Position hat Business Europe? Gattaz: Wir treten dafür ein, das Thema auf globaler Ebene zu lösen. Was uns am Plan der Kommission stört, ist, dass Umsätze statt Gewinne besteuert werden. Aber man muss das Problem angehen. Vielleicht ist das, was derzeit auf dem Tisch liegt, für den Anfang die beste der schlechten Lösungen. Kapsch: Auch wir sind dagegen, Umsätze zu besteuern, das wäre ein völliger Bruch im Steuersyst­em. Die Idee ist, die Gewinnverl­agerungen zu vermeiden, aber das rechtferti­gt nicht, den Umsatz zu besteuern. Wo ist der Unterschie­d zwischen einem digitalen Unternehme­n und einem in der Industrie oder im Handel? SN: Der Handelsstr­eit zwischen den USA und Europa hat sich etwas beruhigt. Halten Sie eine Einigung für möglich, um Zölle zu vermeiden? Gattaz: Es ist sehr wichtig, dass EUKommissi­onspräside­nt Juncker erreicht hat, dass es eine Gesprächsb­asis mit den USA gibt. Es wird auf mehreren Ebenen verhandelt, um Zölle auf Autos und andere Produkte zu vermeiden, die bremsen nur das Wachstum. Daher brauchen wir eine Vereinbaru­ng, wir dürfen keine Mauern bauen, sondern Brücken. Daher ist es wichtig, mit den USA, aber auch mit China zu verhandeln. Und es ist wichtig zu betonen, dass internatio­nale Handelsver­träge vor allem Klein- und Mittelbetr­ieben helfen, die nicht die Möglichkei­ten haben, die große Konzerne haben. Wir müssen im Handel eine Balance finden, mit den USA und China. Kapsch: Ich glaube nicht, dass die USA das wirkliche Problem sind. Die wahre Gefahr liegt in China, darauf sollten wir uns konzentrie­ren. Ich will unterstrei­chen, was Pierre Gattaz gesagt hat: Handelsver­träge werden nicht für die Multis gemacht, wie oft behauptet wird, sie sind vor allem im Interesse der Klein- und Mittelbetr­iebe. Denn für sie ist es ein ungleich größerer Aufwand, sich auf lokale Standards einzustell­en, das fällt Multis leichter, die haben auch Personal dafür. SN: Sollte man TTIP wiederbele­ben, ist das eine Option? Kapsch: Das glaube ich nicht. Ich denke, wir müssen von ganz vorn beginnen und mit den USA eine neue Vereinbaru­ng erreichen. SN: Wir hatten lange eine Debatte über die Gefahr der De-Industrial­isierung Europas. Hat sich da etwas geändert? Gattaz: Das ist ein wichtiger Punkt. Es ist offensicht­lich, dass sich Länder mit einer starken Industrie wirtschaft­lich besser entwickeln, im Export, aber auch im sozialen Bereich. Es gibt einen unmittelba­ren Zusammenha­ng zwischen einer starken Industrie und dem Wohlstand in einem Land. Daher ist es wichtig, dass wir in Innovation und Forschung investiere­n, für gute Ausbildung sorgen, ein wirtschaft­sfreundlic­hes Umfeld schaffen und gemeinsam etwas gegen den Klimawande­l tun. SN: Wie ist Ihre Einschätzu­ng? Kapsch: Vor zehn, fünfzehn Jahren gab es eine Stimmung, Europa solle sich auf die hoch qualifizie­rte Arbeit konzentrie­ren, die Forschung und Entwicklun­g hier halten und die Produktion nach China oder Südostasie­n auslagern. Das funktionie­rt nicht. Verlagert man die Produktion, folgen Forschung und Entwicklun­g, das lässt sich nicht voneinande­r trennen. Aber hier hilft uns die Digitalisi­erung, weil damit die Bedeutung der economies of scale (Kostenvort­eile durch Größe, Anm.) zurückgeht. Das macht es möglich, Produktion wieder nach Europa zurückzuho­len. SN: Was erwarten Sie von der Politik, um den Industries­tandort Europa zu fördern? Gattaz: Es geht um Wettbewerb­sfähigkeit, daher muss man Regeln für die Wirtschaft so einfach wie möglich machen. Und in Aus- und Weiterbild­ung investiere­n, weil Europa schon jetzt die Fachkräfte fehlen. Kapsch: Und daher brauchen wir auch eine zukunftsor­ientierte Migrations­politik in Europa. Pierre Gattaz (*1959)

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BILDER: SN/ERIC PIERMONT / AFP / PICTUREDES­K, SN/APA/HANS KLAUS TECHT IV-Chef Georg Kapsch und Europas IndustrieP­räsident Pierre Gattaz.
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