Der vergessene Amoklauf
Ein 18-Jähriger feuerte vor seiner ehemaligen Schule mit einer Schrotflinte auf einen Schüler. Der Direktor blickt auf jenen Tag zurück, an dem es um ein Haar zum Massaker gekommen wäre.
HAK-Direktor Johannes Berthold wird nachdenklich, wenn er sich an den 9. Mai 2018 erinnert. Damals fehlte nicht viel und das Bundesschulzentrum in Mistelbach im niederösterreichischen Weinviertel wäre in die Kriminalgeschichte eingegangen. Ein 18-jähriger Ex-Schüler hatte mit einer Schrotflinte auf einen 19-Jährigen gefeuert. Dass es dabei blieb und das Opfer relativ glimpflich davonkam, dürfte einem Defekt der Waffe geschuldet gewesen sein. Das offenbar geplante Massaker blieb aus. Das kollektive Trauma ebenfalls.
„Bei uns war das ein Vorfall, der sehr schnell wieder verblasst ist“, sagt der Schulleiter. Klar, man sei geschockt gewesen, so unmittelbar nach der Tat. „Aber der nächste Tag war ein Feiertag, der Freitag ein schulautonomer Tag und am Samstag wurde dann in Wien ein totes Mädchen in einer Mülltonne gefunden“, sagt Berthold. Die Ereignisse hätten sich eben überschlagen.
Das Thema Amoklauf sei unter den Schülern schnell abgehakt gewesen: „Vielleicht ist die heutige Jugend aufgrund der Tatsache, dass sie via Internet permanent mit Kriegssituationen konfrontiert wird, schon sehr abgestumpft“, mutmaßt der HAK-Direktor. Betroffen seien eigentlich nur diejenigen gewesen, die „nahe am Opfer dran waren“. Zehn bis zwölf Personen, schätzt Berthold, hätten nach dem Schuss auf den Jugendlichen psychologische Betreuung in Anspruch genommen.
Möglicherweise war die Szenerie an jenem Mittwochnachmittag im Mai für einen Ort wie Mistelbach auch schlicht zu surreal, um das Schulgefüge nachhaltig zu beschädigen und zu verunsichern. Denn Gewalt sei, so Berthold, im 1300 Schüler zählenden Bundesschulzentrum praktisch inexistent. „Ich kann mich nicht erinnern, je eine Anzeige erstattet oder einen Sachverhalt dokumentiert zu haben. Bei uns gibt es ja kaum einmal ein ernstes Gespräch mit den Eltern.“Was ebenfalls zu der raschen Beruhigung beigetragen hat: „Wir haben die Medien inständig gebeten, den Ball flach zu halten. Immerhin steckten damals viele mitten in der Vorbereitung für die Matura“, blickt Berthold zurück.
Dem 18-Jährigen wird ab heute, Mittwoch, am Landesgericht Korneuburg der Prozess gemacht. Die Anklage lautet auf mehrfachen versuchten Mord. Um das Motiv ranken sich zahlreiche Vermutungen. Nach der Schussabgabe ließ der mutmaßliche Schütze einen dunklen Trenchcoat am Tatort zurück. Zufall oder Absicht? Auch jene beiden Jugendlichen, die 1999 in der Columbine High School in den USA zwölf Mitschüler und einen Lehrer erschossen hatten, trugen schwarze Trenchcoats.
Jedenfalls gibt es Hinweise, dass der 18-Jährige die Tat angekündigt hat. Der „Kurier“berichtete, er habe in einem Brief an seine Mutter erklärt, er wolle sich an zwei Burschen rächen „für das, was sie ihm angetan haben“. Ermittlern zufolge gibt es Indizien auf „eine mögliche weiterführende Tathandlung“.
Die Waffe, eine sogenannte Baikal-Flinte, hatte sich der Beschuldigte legal besorgt – inklusive 25 Schuss Munition. Ein psychiatrisches Gutachten attestierte dem Angeklagten sowohl eine massive Persönlichkeitsstörung als auch hohe Gefährlichkeit. Im Falle eines Schuldspruchs drohen ihm, da der Strafrahmen für junge Erwachsene gilt, bis zu 15 Jahre Haft – beziehungsweise die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher.
„Bei uns war das ein Vorfall, der sehr schnell verblasst ist.“Johannes Berthold, HAK-Direktor