Im Horrorkabinett der Seele
Seine drastisch-düsteren Bilder irritieren bis heute. Wie eng Alfred Kubin mit der Künstlergruppe des „Blauen Reiters“verbunden war, zeigt eine famose Ausstellung im Münchner Lenbachhaus.
Mit leeren Augen stiert der Schimmel vor sich hin. Wohin die Reise geht, ist auch der Reiterin gleichgültig. Ihr schickes Schaukelpferd sitzt schließlich auf Wiegemessern und hat nur ein Ziel: Männer zu metzeln. Arme und Beine liegen wild verstreut auf dem Boden wie in Goyas heftigsten Radierungen. Und das ist kein Einzelfall im Horrorkabinett des Alfred Kubin (1877–1955).
Da trabt die „Krankheit“über ein Meer deformierter Köpfe (um 1900), und ein feister Kerl brät wie der Ochs am Spieß (1909). Nicht einmal tot will man in diesen Welten unter der Erde liegen. Mit spitzer Feder ist festgehalten, was durch die fiesesten Albträume geistert, männliche Albträume vor allem, die seit Urzeiten von fatalen Liliths und Circen dominiert werden. Dabei hatten die Frauen zu Kubins Zeiten noch lange nichts zu melden.
Doch der junge Österreicher kommt an mit seinen Angstszenarien: in Berlin, wo ihm der angesagte Galerist Paul Cassirer 1901 eine erste Einzelausstellung verschafft, in der Wiener Secession und immer wieder im freizügigen Schwabing. Dass sich überhaupt einer traut, so tief in menschliche Abgründe zu blicken, lässt keinen unberührt.
Und der zerbrechlich wirkende Mann mit dem melancholischen Blick taucht begierig ein in Literatenund Malerzirkel. Gar so scheu erleben ihn die Zeitgenossen dann doch nicht, zumal dieser „Schulversager“nach einer abgebrochenen Fotografenlehre und einem ernüchternden Intermezzo an der Münchner Kunstakademie auf der Suche ist. Wassily Kandinsky wird auf ihn aufmerksam und verschafft ihm 1904 schon eine Retrospektive in der fortschrittlichen Künstlervereinigung Phalanx. Die beiden verstehen sich spontan, und bei allen Unterschieden – Kandinsky steckt damals tief in den farbtupfend-märchenhaften Erinnerungen an seine russische Heimat – ist der Umgang von großer gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Auch Paul Klee und Franz Marc finden Gefallen an dem kuriosen Kauz, dessen illustrierter fantastischer Roman „Auf der anderen Seite“1909 mächtige Wellen schlägt. Mit so einem bricht man nur allzu gern auf zu neuen Ufern: erst in der Neuen Künstlervereinigung und bald darauf beim „Blauen Reiter“. Man bringt das ja nie so recht zusammen: auf der einen Seite Franz Marc und August Macke, Gabriele Münter und Kandinsky, die Werefkin und Alexej Jawlensky, die sich formal immer mehr beschränken zugunsten explodierender Farben – und auf der anderen Seite der düstere Kubin, dieser Chronist kollektiver Seelennöte, der nur ganz kurze Streifzüge in die Malerei unternimmt und dort auch keine wirklich glückliche Figur macht. Indessen war der Austausch beträchtlich, das zeigt nun Annegret Hobergs Gegenüberstellung im Münchner Lenbachhaus, das mit dem Besitz des Kubin-Archivs an der Quelle sitzt.
Die unterschiedlichsten Blätter der „Reiter“-Mitglieder sind hier mit den Illustrationen und Mappen Kubins konfrontiert. Außer der ersten Reihe, die der Sammler Hans von Weber 1903 herausgibt und die die männermordende Amazone auf dem Schaukelpferd enthält, ist das vor allem der „Sansara“-Zyklus von 1911. Mit einzelnen Zeichnungen vielfiguriger Bedrohungsszenarien („Schlangen in der Stadt“) ist Kubin dann auch auf der zweiten Ausstellung des „Blauen Reiters“im Frühjahr 1912 vertreten. Im berühmten „Almanach“sind sogar drei Werke abgebildet.
Fast spannender ist allerdings der Briefwechsel zwischen Kubin und den „Reiter“-Mitgliedern. So schwärmt Kubin für Kandinskys „Erschließen einer ganz neuen Kunstmöglichkeit nach der abstrakten Seite hin“– hellsichtiger als viele unter den Avantgardisten. Nebenbei zeigt dieses erstmals ausgebreitete Beziehungsgeflecht das Bild von der Offenheit des „Reiter“Kreises fern jeder Dogmatik.
Alfred Kubin bleibt ein Einzelwerker mit gelegentlichen Ausflügen in die Ateliers der Kollegen. Und er braucht den Rückzug ins oberösterreichische Zwickledt nahe Schärding, wo er mit seiner kranken Frau Hedwig ein kleines Schloss bewohnt. Einerseits. Andererseits taumelt Kubin in der Einsamkeit von einer Angstvision in die nächste. Die eigenen Traumata sind seine verlässlichsten Gefährten, vom frühen Tod der Mutter über die unerbittliche Härte des Vaters bis zu den ersten sexuellen Erlebnissen des Knaben mit einer älteren schwangeren Frau.
Kubin verdrängt weder Schuld noch Scham und bringt mit der zeichnerischen Ausformulierung seiner persönlichen Höllenfahrten zwischen Machtlosigkeit und Verzweiflung etwas in die Öffentlichkeit, das in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg viele trifft – und bis heute irritiert.