Der richtige Blick ins Innere des Schnees
Das „Wissen im Umgang mit Lawinengefahr“ist immaterielles Weltkulturerbe geworden. Ein SN-Lokalaugenschein bei einem Lawinenkurs.
Die 60 Kursteilnehmer des Grundlehrgangs des Salzburger Lawinenwarndienstes gehen mit Sonden, Schaufeln, Thermometern und auch mit Lupen in einen knapp einen Meter hoch verschneiten Steilhang am Kitzsteinhorn. Das Ziel: die Beschaffenheit der Schneedecke akribisch zu untersuchen, um die mögliche Gefahr eines Lawinenabgangs zu erkennen. Die Männer sollen in Zukunft in ihren Heimatgemeinden bei den örtlichen Lawinenwarnkommissionen mitwirken.
Die Tradition im Umgang mit der Lawinengefahr wurde, wie berichtet, vergangene Woche bei einer UNESCO-Tagung auf Mauritius auf die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit gesetzt. Vertreter des Österreichischen Alpenvereins, des Berg- und Skiführerverbands sowie der Lawinenkommissionen hatten mit Schweizer Verbänden die Kandidatur erarbeitet. „Die Vermittlung dieses Erfahrungswissens geschah jahrhundertelang mündlich von einer Generation zur nächsten und manifestierte sich u. a. in Bauernregeln. Schriftlich dokumentiert wurden seit dem 17. Jahrhundert vor allem Schadenslawinen“, so die Initiatoren.
Zurück am Kitz: „Es ist ein Blick in das Innere des Schnees“, so Bernhard Niedermoser, Leiter der Salzburger Lawinenwarnzentrale und Meteorologe, der zuvor im Lehrsaal die wichtigsten Parameter für die Bestimmungen aufgezeigt hatte: Schneemenge, Temperatur, Art der Oberfläche, wie ist der Schnee geschichtet, welche Körnung weist er auf, wie dicht ist er, wie feucht, wie hart. „Das Entscheidende ist dabei, nach einer schwachen, vor allem weichen Schicht zu suchen“, sagt Niedermoser. Hinweise auf Gefahrenstellen zeigten auch die Größe und Körnung der Schneekristalle, die von groß über filzig, rund und kantig reichen können.
Im Gelände im Bereich des Alpincenters am Kitzsteinhorn in 2500 Metern Höhe müssen die Kursteilnehmer das Gehörte in die Praxis umsetzen. Sie versuchten mit der sogenannten Nietenmethode die weichen Schichten zu ertasten, untersuchten mit der Lupe die Körnung der Kristalle, die zuvor auf ein Schaublatt gestreut wurden. Zu guter Letzt soll ein Belastungstest zeigen, wie rutschanfällig der Bereich im Hang sein könnte. Immer wieder brechen Blöcke ab – ein Zeichen, dass unter der Oberfläche eine Schwachschicht liegen muss.
Unter den Kursteilnehmern befindet sich auch Erich Rohrmoser, Bürgermeister von Saalfelden: „Ich bin deshalb dabei, weil ich mir einen Eindruck verschaffen will, was diese Leute machen, die Risiko und auch Verantwortung tragen, und bin von der Kompetenz der Referenten begeistert.“Wie wichtig eine Lawinenkommission für Saalfelden sei, zeige sich an der B 311 in der Nähe des Brandlhofs: „Da gibt es exponierte Stellen und wenn da etwas passiert, kann niemand mehr von Norden nach Leogang, Maria Alm oder ins Glemmtal fahren. Also muss man genau beobachten.“
Wie gewaltig und zerstörerisch Lawinen sein können, wurde zuvor mit zahlreichen Videos eindrucksvoll gezeigt. Dabei erklärte Michael Butschek, Meteorologe und Experte in Lawinenkunde, welche Zug-, Druck- und Scherkräfte in den Schneemassen wirken können. Dass sich dabei ein Bruch in einem Schneebrett mit Schallgeschwindigkeit ausbreitet und Staublawinen sogar Baumgruppen wie Streichhölzer fällen können, verfehlte bei den Zuhörern keineswegs die Wirkung.
Der 19-jährige Daniel Jeßner von den Schönalmbahnen in Obertauern zeigt sich begeistert: „Absolut interessant, man lernt viel. Wir haben am Tauern auch mit Lawinen zu tun und Sicherheit ist bei uns das Wichtigste.“Ebenso Albert Wurm, Techniker bei der Salzburg AG, aus St. Koloman: „Gewaltige Eindrücke und lehrreich. Ich bin neu in der Lawinenkommission in St. Koloman.“Auch Hans Jörg Hettegger von den Großarler Bergbahnen unterstreicht die Bedeutung einer solchen Ausbildung: „Ich bin seit dem Vorjahr neuer Pistenchef und da muss man unbedingt einen Einblick haben, sich auskennen. Bei uns müssen manchmal Lawinen gesprengt werden. Natürlich bin ich nächstes Jahr beim Fortgeschrittenenkurs dabei.“
Norbert Altenhofer, Kursleiter und Leiter des amtlichen Lawinenwarndienstes in Salzburg, zeigt sich zufrieden: „Aktuell haben wir 90 Lawinenwarnkommissionen mit rund 700 ehrenamtlichen Mitarbeitern und derzeit findet so etwas wie ein Generationswechsel statt. Nach den Kursen sind die neuen Mitarbeiter mit einem fundierten Wissen als Sachverständige tätig und mit einem hohen Maß an Verantwortung und Sorgfalt, die ihnen abverlangt wird, konfrontiert.“
Der entscheidende Auslöser, im Bundesland Salzburg flächendeckend Lawinenwarnkommissionen einzusetzen, war das sogenannte Schwedenunglück am 2. März 1965. Damals starben 14 Schweden und Finnen auf ihrem Weg im Postbus von Radstadt nach Obertauern in der „Weißlahn“im Bereich der Gnadenalm. Eine wesentliche Aufgabe der Gründerväter bestand auch darin, die Mitglieder der örtlichen Lawinenwarnkommissionen entsprechend auszubilden. Wesentliche Geburtshilfe kam in den Anfangs- jahren vom Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) aus der Schweiz.
Unter welcher Anspannung eine Lawinenkommission in einem Tourismusort stehen kann, beschreibt ein erfahrener Lawinenexperte, Hotelier und früherer Bürgermeister, der nicht genannt werden möchte, so: „Wir sind die Buhmänner des Dorfs. Der Druck ist enorm, wenn wir die Straße aufgrund sachlicher Kriterien sperren müssen. Man wird zum Buhmann des ganzen Dorfs, weil viele Menschen solche Maßnahmen nicht verstehen. Das beginnt bei den Gästen. Der eine Gast, ein Arzt, muss unbedingt nach Hause fahren, weil er in Norddeutschland operieren müsse. Ein anderer Gast verweist auf den Geburtstag seiner Großmutter. Und unsere Hoteliers sind böse, weil wir die An- und Abreise der Gäste massiv behindern. Allerdings legt sich die Wut schon nach einigen Tagen und vielen wird einmal mehr klar, wie wichtig unsere Arbeit ist, um dutzendfachen Tod zu verhindern.“
„Schwache Stellen finden ist das Ziel.“Bernhard Niedermoser, ZAMG