„Wenn wir es blöd machen, sind wir dran“
Die Natur sei ausgereizt und ausgeblutet, sagt Ernst Ulrich von Weizsäcker. Er warnt jedoch nicht nur vor Gefahren durch Klimawandel, Bevölkerungswachstum oder Migration. Er fordert ein radikal neues Denken.
Ernst Ulrich von Weizsäcker ist seit mehr als 25 Jahren Mitglied des Club of Rome. Der studierte Chemiker, Physiker und Biologe war unter anderem Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie. Er saß für die SPD von 1998 bis 2005 im Deutschen Bundestag und ist vielfacher Autor von Büchern, die sich vor allem mit der Frage beschäftigen, wie nachhaltiges Wirtschaften funktionieren kann und wie man Wachstum vom gleichzeitig steigenden Energieverbrauch entkoppeln kann („Faktor vier“, „Faktor fünf“).
Sein jüngstes Buch trägt den doppeldeutigen Titel „Wir sind dran“, in dem er eine neue Aufklärung fordert. Im SN-Interview erklärt er, warum die alte Aufklärung aus dem 18. Jahrhundert heute nicht mehr tauglich ist.
SN: Die Migrationsdebatte dominiert derzeit die Politik in vielen Ländern Europas, aber auch in den USA. Die Politik gibt vor, die Fluchtursachen bekämpfen zu wollen. Wie wichtig ist hier der Kampf gegen den Klimawandel?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Die eigentliche Ursache für die Flucht vieler Menschen aus ihren Heimatländern ist die Zunahme der Weltbevölkerung. Als Europa überbevölkert war, war Amerika im Wesentlichen leer. Heute ist kein leerer Kontinent mehr da. Trotzdem vermehrt sich die Bevölkerung in Afrika wie in Europa im 19. Jahrhundert. Das kann nicht gut gehen.
Das wird verstärkt durch die Klimasituation, durch fehlendes Trinkwasser, Korruption, lokale Unterdrückung und so weiter. Wir müssen endlich die Vermehrung der Menschheit stoppen.
SN: Müsste die Erde nicht auch für zehn Milliarden Menschen Platz haben, wenn nachhaltig gewirtschaftet würde?
Ja und nein. Es gibt eine Berechnung, die ich von einem österreichischen Ornithologen gelernt habe: Wenn man das Gewicht der auf dem Lande lebenden Wirbeltiere in drei Kategorien aufteilt (Menschen, Haustiere und Wildtiere), dann ist die Relation so: 30, 67 und 3 Prozent.
Die Natur ist ausgeblutet und ausgereizt, da ist kein Platz mehr. Die Behauptung, jetzt müssten wir nur ungenutztes Land für die Menschen in Beschlag nehmen, ist eine Gemeinheit gegenüber den letzten Giraffen, die es dort noch gibt.
Davon redet aber niemand, das ist tabu. An die Wahlurnen gehen ausschließlich die Menschen und keine einzige Giraffe. Wir sind so wahnsinnig anthropozentrisch geworden. Unsere Enkelgeneration wird stinksauer auf uns sein, dass wir die Natur kaputt machen.
SN: Wie wollen Sie diese Entwicklung umkehren?
Erst einmal Aufklärung. Die Tatsache, dass es so ist, wird verdrängt. Wahrheit ins Gehirn nehmen. Aber niemand will die Wahrheit hören, das ist das Problem.
SN: Wenn man Sie jetzt so hört, hat man das Gefühl, dass sich in den vergangenen 50 Jahren, als der Club of Rome vor den Grenzen des Wachstums warnte, nichts getan hat. Ist das tatsächlich so?
In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Weltbevölkerung verdreifacht – von zweieinhalb Milliarden auf siebeneinhalb Milliarden. Der Konsum hat sich verzehnfacht, unter Absingen von lieben Lobliedern auf die Grenzen des Wachstums. Und das Gegenteil hat man gemacht, weil das Wählerstimmen bringt. Weiter so, das ist immer der Sieger. So ist die Politik organisiert, das darf man aber gar nicht Politikern übel nehmen, sondern den Wählerinnen und Wählern. Die bestimmen das.
SN: Unser Wirtschaften ist auf Wachstum aufgebaut. Ist Wachstum aber nicht auch Motor des Fortschritts und der Veränderung?
Wachstum ist der Inbegriff dessen, was ständig gelobt wird. Aber ich bin nicht gegen Wachstum. Und da kommt natürlich die Frage: Können wir das Wachstum so organisieren, dass wenigstens die Schäden nicht größer werden?
Darüber habe ich die vergangenen 25 Jahre gearbeitet mit „Faktor vier“und „Faktor fünf“. Das ist technisch alles möglich. Aber diese technischen Möglichkeiten werden aus dem einfachen Grund nicht genutzt, dass alle Länder dieser Welt dafür sorgen, dass Energie, Trinkwasser, Land, Mineralien so billig wie möglich gemacht werden, damit es bloß nicht lohnt, das effizienter einzusetzen.
SN: Ihr jüngstes Buch trägt den Titel „Wir sind dran“. Geht es uns jetzt an den Kragen?
Ich bin von diesem Titel begeistert. Denn erstens: Wir sind an der Reihe. Es ist an unserer Generation, etwas zu tun. Und wenn wir es blöd machen, dann sind wir dran. Das ist einfach so.
Das Buch ist ja nur in der ersten Hälfte so pessimistisch, wie ich es gerade betont habe. Die zweite Hälfte ist optimistisch und beschäftigt sich damit, was wir alles machen können. Wir können die Menschen nicht mit grundpessimistischen Botschaften allein lassen, wie es vor 50 Jahren der Club of Rome gemacht hat. Das geht politisch schief.
SN: Was verstehen Sie in diesem Zusammenhang unter der neuen Aufklärung, die Sie jetzt vehement einfordern?
Die alte Aufklärung hatte dezidiert positive und dezidiert problematische Elemente, zum Beispiel eine Rechtfertigungslehre für Kolonialismus. Ein anderer Punkt ist das Heiligsprechen des Egoismus. Oder die Verabsolutierung der positiven Seiten von Konkurrenz. Das ist ja tendenziell antisolidarisch.
Das gehört mit zur alten Aufklärung. Im angelsächsischen Raum haben sich diese negativen Teile zum eigentlichen Inhalt entwickelt. In Frankreich, Deutschland oder Österreich nicht. In Kontinentaleuropa sind die positiven Seiten der alten Aufklärung dominant gegenüber den negativen. Also Wahrheitssuche statt Schwindel, auch präzise Rationalität, Beweisbarkeit, das sind ja die großen Tugenden. Die will ich in keiner Weise schmälern. Man muss nur unterscheiden, wo sie sich unschön verheiratet haben mit purem Egoismus.
SN: Und die neue Aufklärung?
Konstruktiv gewendet sagen wir: Wir müssen mehr an Balance denken und weniger an Rechthaberei.
Ich kann das an einem Beispiel aufzeigen: Die Linke sagt, wir brauchen soziale Gerechtigkeit, die Rechte sagt, wir brauchen einen vernünftigen Leistungsanreiz. Aber heißt das, dass der eine unrecht hat und der andere recht? Das ist doch Quatsch. Natürlich brauchen wir auch Leistungsanreize.
SN: Wie beurteilen Sie den wachsenden Nationalismus? Ist das nur der Migrationsdebatte geschuldet oder hat das auch mit den Folgen der Globalisierung zu tun?
Die negativen Begleiterscheinungen der Globalisierung sind der eigentliche Grund. Die Migrationsprobleme sind der Anlass. Die Leute sind gescheit genug, um zu wissen, dass eine Globalisierung als solche nicht rückgängig gemacht werden kann. Eine Migrationswelle dagegen kann unter Umständen rückgängig gemacht werden. Politische Pfunde bekommt man nur dafür, was realisierbar ist.
Aber vor drei Jahren war Globalisierungskritik eine Sache der Linken. Jetzt ist das plötzlich ein Thema der Rechten. Jetzt müssen wir intellektuell und politisch unterscheiden: Was sind die Antworten der Linken und was die Antworten der Neonationalisten? Und da sage ich: Was die Nationalisten machen, ist Kasperltheater.
Auch für die USA, das wirtschaftlich stärkste Land der Welt, ist Renationalisierung ein kompletter Wahnsinn. Und zwar für die amerikanische Industrie und für den amerikanischen Wohlstand. Wenn die FPÖ, die AfD, die Schweizerische Volkspartei oder Le Pen in Frankreich das ernsthaft propagieren, dann propagieren sie ernsthaft einen Niedergang des Wohlstands.
SN: Sie sind ja auch ein Kritiker der Globalisierung. Was können wir gegen ihre negativen Auswirkungen tun?
Der ehemalige US-Präsident Barack Obama hat auf dem G20-Gipfel im Jahr 2010 gefordert, endlich eine Re-Regulierung der Finanzmärkte anzupacken.
Es war ja so ein besoffener Hype nach 1990, als der Kommunismus weg war, dass der Markt besser ist als der Staat. Also entmachten wir den Staat. Aber was ist der Markt? Das ist der Finanzmarkt.
Von 100 Euro, die um die Welt sausen, werden zwei Euro für die Bezahlung von Gütern und Dienstleistungen verwendet. 98 Euro sind rein spekulativ. Das muss man wieder korrigieren.
Es kostet nichts, Milliarden von Dollar um die Welt zu schicken und damit die Realwirtschaft zu erpressen. Der Nobelpreisträger James Tobin hat schon in den 1970er-Jahren gewarnt, dass dies ein zerstörerisches Anreizsystem ist. Hier muss korrigiert werden.
Eine Tobin-Steuer wäre daher eine Möglichkeit. Diese Steuer muss nicht hoch sein, es reichten ein paar Cent. Das ist für reale Transaktionen kein Problem, wohl aber für die Spekulation.