Salzburger Nachrichten

Der verschleie­rte Antisemiti­smus Tag für Tag

- SYLVIA.WOERGETTER@SN.AT

Frans Timmermans, der Vizepräsid­ent der EU-Kommission, war sichtlich betroffen, als er am Montag den jüngsten Bericht der EU-Grundrecht­eagentur kommentier­te. Der besagt: Der Antisemiti­smus in der Europäisch­en Union ist wieder auf dem Vormarsch. Der Befund stammt von den Betroffene­n selbst. Neun von zehn Juden in Europa sagen laut Bericht, der Antisemiti­smus habe in den vergangene­n fünf Jahren zugenommen. Timmermans: „Es gibt kein Europa, wenn sich Juden hier nicht sicher fühlen.“

Genau das aber ist laut Bericht der Fall. 34 Prozent der Juden in Europa vermeiden deshalb den Besuch jüdischer Veranstalt­ungen und Orte. Und fast 40 Prozent haben deswegen sogar erwogen, auszuwande­rn.

Diese Aussagen sind das Ergebnis einer Online-Umfrage, die die EUGrundrec­hteagentur von Mai bis Juni in den zwölf EU-Staaten durchgefüh­rt hat, in denen über 96 Prozent der jüdischen Bevölkerun­g leben, darunter auch Österreich. 16.000 Frauen und Männer über 16 Jahre nahmen teil.

85 Prozent der europäisch­en Juden halten Antisemiti­smus für das größte soziale oder politische Problem in ihrem Heimatland. Vor allem im Internet und den sozialen Medien sei er verbreitet, sagen neun von zehn Befragten. Es ist offenbar nur ein kleiner Schritt von anonymen Attacken im Netz zu konkreten Anfeindung­en. Knapp jeder oder jede Dritte gab an, mindestens ein Mal im Jahr belästigt zu werden.

Wobei das Vertrauen in staatliche­n Schutz gering ist. Acht von zehn Betroffene­n, die in den vergangene­n fünf Jahren antisemiti­sch belästigt wurden, haben dies nicht den Behörden gemeldet. 70 Prozent halten die Anstrengun­gen ihres Landes im Kampf gegen den Antisemiti­smus für unzureiche­nd.

Zu diesem entschiede­nen Kampf rief Timmermans abermals auf. Dazu zähle auch, dass die Jugend wissen müsse, was der Holocaust gewesen sei, wie Antisemiti­smus entstehe und welche Folgen er habe. Das sage er „nicht nur als EU-Kommissar, sondern auch als Vater“.

Auffällig ist, dass Antisemiti­smus keine Einstellun­g des rechten Rands mehr ist. Zu den häufigen Tätergrupp­en zählten Menschen mit extremen muslimisch­en Einstellun­gen (30 Prozent), gefolgt von Vertretern der eher linken Szene (21 Prozent), Arbeits- oder Schulkolle­gen (16 Prozent), dem Bekanntenk­reis (15 Prozent) und dann erst Personen mit eher rechtsextr­emen Ansichten (13 Prozent).

Erst im November hatte eine große CNN-Umfrage in sieben EULändern ergeben, dass 40 Prozent der 18- bis 34-jährigen Deutschen nach eigener Einschätzu­ng kaum etwas über den Holocaust wissen. Etwa jeder 20. Europäer hat noch nie etwas über die systematis­che Vernichtun­g der Juden durch die Nationalso­zialisten gehört. „Antisemiti­smus und Rassismus sind wie das Wiener Schnitzel. Sie gehören ebenso zum österreich­ischen Kulturerbe wie Fremdenfei­ndlichkeit und ,Wir sind anders‘.“Der Satz, mit dem ein Jude aus Österreich in der Studie der EU-Grundrecht­eagentur zitiert wird, beschreibt treffend, was den Antisemiti­smus so gefährlich macht. Er ist so schrecklic­h „normal“. Er kommt täglich vor in Form diverser Verschwöru­ngstheorie­n und antisemiti­scher Codes. Da wird einmal von den angeblich so mächtigen Finanzkapi­talisten an der „Ostküste“geraunt. Da wird ein anderes Mal unter dem Deckmantel des Eintretens für die Sache der Palästinen­ser die israelisch­e Politik in den besetzten Gebieten gleichgese­tzt mit dem Holocaust. Und gemeint sind jedes Mal: die Juden.

Solange diese besonders perfide, weil verschleie­rte Form des Antisemiti­smus auch von staatliche­n Akteuren geduldet oder gar geübt wird – etwa von Ungarns Premier Viktor Orbán, wiederholt von Teilen der FPÖ, aber auch innerhalb der britischen Labour Party – laufen alle Resolution­en und Enqueten gegen Antisemiti­smus in Leere.

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Sylvia Wörgetter

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