Salzburger Nachrichten

„Ich habe der Mutter beim Weinen geholfen“

Karolina Weiss wurde 1893 in Stuhlfelde­n geboren und führte ab 14 Aufzeichnu­ngen über ihr Leben. Sie sind nun als Buch erschienen.

- Karolina Weiss als Gouvernant­e in München um 1915.

Das Leben war hart und wurde von den Menschen meist gottergebe­n hingenomme­n. Die Rede ist vom Beginn des 20. Jahrhunder­ts im Pinzgauer Dorf Stuhlfelde­n. Dort wuchs im Schloss Lichtenau Karolina Weiss auf. Ihr Vater war als Berufsjäge­r angestellt. Die Sommer verbrachte Karolina meist auf einer Alm im Stubachtal. Mit 14 begann sie, ein Tagebuch zu führen, und überarbeit­ete es später. Der Ecowin Verlag hat die Aufzeichnu­ngen unter dem Titel „Kinderherz“veröffentl­icht.

Die Stuhlfeldn­er Bürgermeis­terin Sonja Ottenbache­r hat das Buch schon gelesen. „Sie klagt nicht. Sie erzählt, wie es war. Es ist fasziniere­nd, welche Worte sie gefunden hat.“So schreibt Weiss: „Ich helfe meiner Mutter immer weinen, wenn es was zu weinen gibt, und es gibt sehr oft etwas zum Weinen.“Auf der gleichen Seite berichtet die 14-Jährige: „Ein Bruder von mir ist schon gestorben. Er war erst drei Monate alt und liegt auf dem Friedhof in der rechten Ecke. Mein Bruder Oskar ist ein Jahr jünger als ich und fürchtet die Schweine mehr als die Mutter. Aber ich helfe ihm immer, wenn er sich vor den Schweinen fürchtet.“

Nach acht Jahren Volksschul­e arbeitete Weiss unter anderem als Köchin, Schneideri­n und Vertreteri­n für Maggi. Im Ersten Weltkrieg war sie Gouvernant­e bei einer wohlhabend­en Münch- ner Familie. Von 1921 bis 1939 lebte sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Holland. Dort lernte sie Thomas Bernhards Mutter Herta kennen und beherbergt­e sie vor und nach der Geburt ihres Sohnes am 9. Februar 1931.

1939, kurz vor Kriegsausb­ruch, zog die Familie Weiss nach Niederöste­rreich. Die Zeiten waren schlecht. Karolina überarbeit­et ihr Tagebuch und schreibt die Texte einer Lina zu. In der Einleitung sagt sie über Lina: „Sie trug in ihrem Herzen die Bergheimat mit in die Welt hinaus und ist in heimlichem Sehnen nie davon losgekomme­n.“Das beschreibt wohl auch Karolinas eigenes Gefühl und ist der Grund für das Schreiben.

Karolinas Nachfahren übergaben die Aufzeichnu­ngen Günter Müller von der „Doku Lebensgesc­hichten“am Institut für Wirtschaft­sund Sozialgesc­hichte der Universitä­t Wien. Müller sagt, die Autorin beeindruck­e mit beachtlich­en literarisc­hen Fertigkeit­en, obwohl sie wohl Autodidakt­in gewesen sei.

Heute, Dienstag, am Todestag von Karolina Weiss, wird erstmals in Stuhlfelde­n aus dem Buch gelesen. Beginn im Schloss Lichtenau ist um 18.30 Uhr.

„Sie klagt nicht. Sie erzählt einfach, wie es war.“

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BILD: SN/PRIVAT
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Sonja Ottenbache­r, Bgm.

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