EU-Gipfel hakt die Migrationskrise ab
Die Zahl der illegalen Grenzübertritte ist massiv gesunken. Zuwanderung ist für die Staats- und Regierungschefs kein Thema mehr.
Mitte des Jahres hatten die EU-Staats- und Regierungschefs noch bis in die frühen Morgenstunden an einer Gipfelerklärung gefeilt, wie die illegale Migration über das Mittelmeer gestoppt werden könnte. So wurden Lager in nordafrikanischen Staaten in Aussicht gestellt, in die die Bootsflüchtlinge gebracht werden sollten. Das alles sollte in den nächsten Monaten konkretisiert werden.
Bei ihrem Treffen gestern, Donnerstag, und heute, Freitag, in Brüssel ist „Migration“nur noch einer von vielen Tagesordnungspunkten, weit hinter brennenderen Problemen wie das Chaos um den EU-Austritt Großbritanniens. Der Grund wird in der geplanten Gipfelerklärung mitgeliefert: Die Zahl illegaler Grenzübertritte sei auf Vorkrisenniveau gesunken und gehe weiter zurück. Das sei zurückzuführen auf die „externe EU-Migrationspolitik und insbesondere auf Grenzkontrollen, den Kampf gegen Schlepper und die Kooperation mit Herkunfts- und Transitländern, die in den vergangen Monaten intensiviert wurde“. Die Eindämmung der illegalen Migration war ein Hauptanliegen der EU, aber auch von Bundeskanzler Sebastian Kurz. Mit seiner Forderung, den Außengrenzschutz im Eiltempo massiv aufzustocken, ist er aber gescheitert. Das wird wie geplant erst bis 2027 passieren. Auch der Streit um die Flüchtlingsverteilung geht weiter.
Die illegale Migration ist auf Vorkrisenniveau gesunken – und dieser Trend hält an. Das stellen die 28 Staats- und Regierungschefs in einem Entwurf ihrer Abschlusserklärungen zum EUGipfel fest, die heute, Freitag, verabschiedet werden sollen. Beigetragen haben dazu mehrere Maßnahmen der EU, andere schlugen fehl.
Migranten
Laut den Daten der Internationalen Organisation für Migration (IOM) erreichten in diesem Jahr (Stichtag 9. Dezember) 135.148 Migranten Europa. 2017 waren es 186.768, 2016 noch 390.432 und im Rekordjahr 2015 etwas mehr als eine Million. 2014 lag die Zahl der Ankünfte bei 230.000. Laut dem letzten detaillierten IOM-Bericht von Oktober kamen heuer die meisten Flüchtlinge und Migranten in Spanien an (54.099), gefolgt von Griechenland (43.135) und Italien (22.031).
Lager und Quote
Mit ihrer Migrationspolitik gescheitert ist die EU vor allem bei den 2016 errichteten Hotspots und der damit verbundenen Flüchtlingsquote.
In Erstaufnahmelagern sollten Flüchtlinge registriert werden. Wer nach einer ersten Anhörung gute Chancen auf Asyl hätte (Syrer, Iraker, Eritreer), sollte auf die EU-Länder verteilt werden, wo dann die Verfahren hätten folgen sollen.
Der Verteilungsschlüssel hat jedoch zu einem Zerwürfnis unter den Ländern geführt. In Italien ist der Plan zudem gescheitert, weil vor allem Migranten aus Afrika ankamen, die nicht für die Verteilung infrage kamen. In Griechenland scheiterte der Plan an der Dauer der Asylverfahren. Noch heute sitzen Tausende Flüchtlinge auf griechischen Inseln in Lagern fest, unter unmenschlichen Bedingungen.
Abschiebungen
Neben langen Verfahren haben fast alle Länder ein Problem, abgelehnte Asylbewerber auch tatsächlich abzuschieben. Oft mangelt es an der Kooperation mit den Herkunftsländern. Die EU will daher mehr Rückführungsabkommen aushandeln. Seit 2016 ist das mit sechs weiteren Ländern gelungen: Guinea, Bangladesch, Äthiopien, Gambia, Elfenbeinküste und Afghanistan. Trotzdem ist die Quote abgelehnter Asylbewerber, die abgeschoben wurden, von 45,8 Prozent (2016) auf 36,6 Prozent (2017) gesunken. Die EU-Kommission will daher die gemeinsamen Regeln für Abschiebungen ändern. So sollen Asylverfahren und das Prozedere bis zur Abschiebung verkürzt werden. Das würde verhindern, dass abgelehnte Asylbewerber untertauchen. Über den Vorschlag beraten Länder und Europaparlament noch.
Asylrecht
So gut wie abgeschlossen sind die Verhandlungen über fünf Gesetzesvorschläge für ein gemeinsames Asylsystem: die EU-Asylagentur, die Länder bei Verfahren unterstützt, wird gestärkt; die Datenbank EURODAC, die Migranten registriert und identifiziert, wird ausgebaut; die Unterbringung und Aufnahme von Flüchtlingen wird weiter vereinheitlicht; genauso die Regeln zur Anerkennung von Flüchtlingen; es wird ein System geben, in dem die Länder freiwillig Plätze für Flüchtlinge direkt aus Krisenregionen anbieten können. Wenn es nach der EU-Kommission geht, sollen diese Angebote stetig kommen und damit für Partner wie UNHCR planbarer werden.
Dublin-Reform
Ungelöst ist noch immer, wer im Fall einer neuen Krise für die Aufnahme der Flüchtlinge zuständig ist. Nach geltenden Dublin-Regeln muss jenes Land das Asylverfahren abwickeln, in dem ein Flüchtling die EU betritt. Die Folgen für die Staaten an der Außengrenze wurden 2015 deutlich sichtbar. Als gescheitert gilt das Dublin-System spätestens seit der Weiterreise von Tausenden Flüchtlingen aus Ungarn über Österreich nach Deutschland.
Auf eine andere Lösung – diskutiert werden verschiedene Varianten von Quotenregelungen – konnten sich die Staaten bisher nicht einmal ansatzweise einigen. Kleinster gemeinsamer Nenner: mehr Unterstützung für Länder, die stark unter Druck geraten – was jenen an der Außengrenze zu wenig ist.
Grenzschutz
Was schon 2015 von den EU-Ländern am vehementesten gefordert wurde, ist der bessere Schutz der Außengrenzen. Einem Vorschlag der EU-Kommission vom September 2015 folgend wurde innerhalb nur eines Jahres die EU-Grenzschutzagentur Frontex zur Europäischen Grenz- und Küstenwache ausgebaut. Sie bekam mehr Befugnisse, ist zuständig für Grenzmanagement und unterstützt nationale Beamte. Zudem übernimmt sie Abschiebungen aus der EU.
Neben mehr Befugnissen sollte der Grenzschutz auch mehr Personal und Ressourcen bekommen. Die von den Mitgliedsstaaten eingebrachten Mittel würden laut Kommission den Bedarf aber nur zur Hälfte decken. Keine Zustimmung gab es von den Ländern zuletzt für die rasche Aufstellung einer ständige Reserve von 10.000 Einsatzkräften. Die EU-Kommission hatte den Vorschlag im Herbst auf Drängen der EU-Spitzen gemacht.
Grenzkontrollen
Die Sicherung der Außengrenzen ist für viele Länder die Bedingung, die Grenzen innerhalb der EU bzw. des Schengenraums offen zu halten. 2015 begannen daher mehrere Länder mit Grenzkontrollen. Deutschland machte im Herbst den Anfang und begann, die Grenze zu Österreich zu kontrollieren. Österreich kontrollierte daraufhin die Grenze zu Slowenien. Diese zuletzt bis 11. November befristeten Maßnahmen wurden nun erneut um ein halbes Jahr verlängert. Die Ausnahme von den Schengenregeln, die bei Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit möglich ist, nutzen auch Dänemark, Schweden, Frankreich und Norwegen. Die EUKommission drängt auf eine Rückkehr zu den offenen Grenzen.
Deals
Noch in Kraft ist der 2016 mit der Türkei ausgehandelte Flüchtlingsdeal. Die EU sicherte Ankara massive finanzielle Unterstützung für die Versorgung von Flüchtlingen zu, im Gegenzug nahm die Türkei Syrer von den griechischen Inseln zurück. Der Europäische Rechnungshof kritisierte zuletzt im November, dass nur die Hälfte der mit EU-Geld finanzierten Projekte die geplanten Ergebnisse erzielt habe.
Die nach der Schließung der Balkanroute von Österreich so formulierte „Schließung der Mittelmeerroute“ist nicht geglückt. Auch 2018 kommen laut IOM die meisten Migranten (81 Prozent) über das Mittelmeer. Durch eine Kooperation mit der libyschen Küstenwache werden aber deutlich mehr Migranten in das nordafrikanische Land zurückgebracht.
Nicht umgesetzt wurden die „Anlandezentren“für Flüchtlinge außerhalb der EU, die sich auch Österreich gewünscht hatte. Ihre Errichtung scheiterte an der Bereitschaft der Staaten in Nordafrika, solche Flüchtlingslager auf ihrem Gebiet zu errichten.