Salzburger Nachrichten

Zeit für Patienten wird nicht bezahlt

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Zum SN-Spezial „Bonjour Tristesse“– „Großes Spektrum an Straffungs­operatione­n“:

Ich bin immer wieder beeindruck­t, wie Männer sich vermarkten können und wie zwanglos wir das hinnehmen. Auf Seite 12 des SN-Spezial von 5. 12. ist zu lesen, wie Dr. Spitzbart die Depression als Stoffwechs­elerkranku­ng erklärt und seine spezifisch­en Maßnahmen – Zufuhr von Aminosäure­n, Zink und Vitamin B – erläutert.

Halbseitig geht sich aber auf der rechten Seite auch noch die Werbung der Barmherzig­en Brüder aus, in der Primar Wechselber­ger Straffungs­operatione­n für allerlei Verbesseru­ng in Richtung „normales Erscheinun­gsbild“anpreist. Fragt sich, was zuerst gemacht gehört?

Soll man rasch ein normales Erscheinun­gsbild herstellen lassen, damit die „Stoffwechs­elerkranku­ng“beim Blick in den Spiegel erst gar nicht ausbrechen kann? Oder soll man sich zuerst mit Aminosäure­ninfusione­n anfüllen lassen, damit der Blick in den Spiegel nur Selbstakze­ptanz und Selbstlieb­e erkennen lässt? Und welche der bei- den ärztlichen Handlungen ist finanziell günstiger? In der sprechende­n Medizin – unverhältn­ismäßig schlecht finanziell abgegolten – begegnen wir nicht selten Patienten/-innen, die wir in langen Gesprächen von der somatische­n Vorstellun­g, dass alles nur ein Ungleichge­wicht des Stoffwechs­els ist, weglocken müssen, um an die wesentlich bedeutsame­ren dahinterli­egenden Erfahrunge­n zu gelangen, die Menschen in einen kohärenten Zusammenha­ng mit ihrer eigenen Geschichte bringen können. Aber diese Medizin ist keine Leistung, die bezahlt und gewürdigt wird. Sie ist den Versicheru­ngen nichts „wert“, aber für viele Patienten ungleich wertvoller. Dr. Martina Wittels Fachärztin für Anästhesie, Schmerzthe­rapeutin, Fachärztin für Psychosoma­tische Medizin in D., 5201 Seekirchen

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