Polarisierung ist der Feind der Demokratie
Ein Jahr Türkis-Blau. Vieles ist auf den Weg gebracht. Die Gesellschaft driftet dabei auseinander.
Die Jahresbilanz der Regierung Kurz-Strache kann sich quantitativ betrachtet auf jeden Fall sehen lassen: Krankenkassenreform eingeleitet, Arbeitszeitflexibilisierung (was für ein schreckliches Wort) beschlossen, Familienbeihilfe aufgebessert, Durchforstung des Gesetzesdschungels in die Wege geleitet, Liste der Mangelberufe ergänzt, Deutschklassen für Migranten eingeführt, Zahl der Abschiebungen erhöht, Nulldefizit angepeilt, Universitätsfinanzierung neu geordnet, Noten in die Volksschule zurückgebracht und, und, und. Über die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der einen oder anderen Maßnahme (Rauchen, Tempo 140, Migrationspakt) darf man, über die Art und Weise, wie sie eingeführt wurden, muss man streiten. Gleich in mehreren Fällen wurden die Sozialpartner ausgebootet und, was noch schwerer wiegt, der Nationalrat nicht ernst genommen.
Die Regierung ist in der Bevölkerung auch nach einem Jahr beliebt. Laut Umfragen hält eine klare Mehrheit der Wählerinnen und Wähler die Arbeit von Türkis und Blau für gut. Das war bei früheren Kabinetten bei Weitem nicht so.
Kann sein, dass diese Bewertung einigen Herrschaften zu Kopf gestiegen ist. Ihnen zur Erinnerung: Österreich ist eine demokratische Republik, ihr Recht geht vom Volk aus. Das wird repräsentiert durch das Parlament. Die Regierung wird „nur“vom Präsidenten ernannt.
Die bisweilen überheblich wirkende Art und Weise des Regierens trägt zur Polarisierung bei. Kurz und Strache arbeiten nach dem Motto „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. Der Kanzler macht kein Hehl daraus, dass er sich jenen Menschen, die ihn und seine Partei ohnehin niemals wählen, auch nicht besonders verpflichtet fühlt. Bei Heinz-Christian Strache ist der Hang zur Klientelpolitik noch ausgeprägter.
Die Opposition ist nicht besser. Selbst sinnvolle Maßnahmen der Regierung werden schlechtgemacht. Jeder scharf abzulehnende rechte Auszucker eines Freiheitlichen wird mit der absurden Nazikeule beantwortet, die ÖVP wird in das austrofaschistische Eck gedrängt. Die SPÖ-Gewerkschafter, unter roten Kanzlern stets handzahm, entdecken ihre Muskeln wieder und inszenieren Warnstreiks auch dort, wo sie deplatziert sind, etwa bei den ÖBB, deren Mitarbeiter im Vergleich zu vielen Österreicherinnen und Österreichern bestens verdienen und zu gut einem Drittel ohnehin Quasi-Beamte sind. Ohne Not werden Proteste von der Oppositionsbank auf die Werkbank und die Straße verlegt.
Die Polarisierung wird also von beiden Seiten betrieben. Sie ist der Feind der Demokratie und bringt sie in Gefahr. Die verbindenden Kräfte, die Brückenbauer einer Gesellschaft, sind derzeit abgemeldet. Weit und breit findet sich niemand, der die auseinanderdriftenden Teile unserer Gesellschaft zusammenhält. Wer nicht links ist, wird als rechts denunziert, und umgekehrt. Die Mitte geht verloren.
Auf diesem politischen Boden, der von Argwohn und Abneigung geprägt ist, wächst die Pflanze des Radikalismus. Kooperation ist nicht mehr gefragt. Der Kompromiss wird als Schwäche abgetan. Wer nachgibt, ist ein Weichei. Demokratie mit ihrem zähen Ringen um ein gemeinsames Ergebnis ist zu mühsam. Schnelles Durchziehen, hartes Handeln, unnachgiebiges, Hauptsache einheitliches Auftreten sind gefragt. Der Krieg der Worte tobt. Der kann auf die Bürgerinnen und Bürger überschwappen. Die auf der politischen Bühne vorgelebte Unversöhnlichkeit kann sich jederzeit in Landtagen, Gemeinden, Firmen, Vereinen und Familien fortsetzen. Regierung wie Opposition sind in der Pflicht, aufeinander zuzugehen.
Die Regierung ist jung im Amt. Sie kann noch lernen. Weder das Durchpeitschertempo noch das selbst auferlegte Schweigegelübde des Kanzlers zu blauen „Einzelfällen“sind leicht durchzuhalten. Sebastian Kurz kann die Freiheitlichen nicht erziehen. Aber er kann rote Linien für die Blauen ziehen: Bis hierher und nicht weiter.
Wollen Regierung und Opposition nicht riskieren, dass die Demokratie in Österreich auf Dauer geschwächt wird und der Ruf nach starken Alternativen erschallt, dann müssen sie wieder miteinander reden. Ein erster Weg wäre es, große Themen, wie Außenpolitik, Europa oder Klimaschutz, außer Streit zu stellen. Selbst das gelingt derzeit nicht.
Die Regierung ist jung und kann lernen