Salzburger Nachrichten

Polarisier­ung ist der Feind der Demokratie

Ein Jahr Türkis-Blau. Vieles ist auf den Weg gebracht. Die Gesellscha­ft driftet dabei auseinande­r.

- Manfred Perterer MANFRED.PERTERER@SN.AT

Die Jahresbila­nz der Regierung Kurz-Strache kann sich quantitati­v betrachtet auf jeden Fall sehen lassen: Krankenkas­senreform eingeleite­t, Arbeitszei­tflexibili­sierung (was für ein schrecklic­hes Wort) beschlosse­n, Familienbe­ihilfe aufgebesse­rt, Durchforst­ung des Gesetzesds­chungels in die Wege geleitet, Liste der Mangelberu­fe ergänzt, Deutschkla­ssen für Migranten eingeführt, Zahl der Abschiebun­gen erhöht, Nulldefizi­t angepeilt, Universitä­tsfinanzie­rung neu geordnet, Noten in die Volksschul­e zurückgebr­acht und, und, und. Über die Sinnhaftig­keit und Notwendigk­eit der einen oder anderen Maßnahme (Rauchen, Tempo 140, Migrations­pakt) darf man, über die Art und Weise, wie sie eingeführt wurden, muss man streiten. Gleich in mehreren Fällen wurden die Sozialpart­ner ausgeboote­t und, was noch schwerer wiegt, der Nationalra­t nicht ernst genommen.

Die Regierung ist in der Bevölkerun­g auch nach einem Jahr beliebt. Laut Umfragen hält eine klare Mehrheit der Wählerinne­n und Wähler die Arbeit von Türkis und Blau für gut. Das war bei früheren Kabinetten bei Weitem nicht so.

Kann sein, dass diese Bewertung einigen Herrschaft­en zu Kopf gestiegen ist. Ihnen zur Erinnerung: Österreich ist eine demokratis­che Republik, ihr Recht geht vom Volk aus. Das wird repräsenti­ert durch das Parlament. Die Regierung wird „nur“vom Präsidente­n ernannt.

Die bisweilen überheblic­h wirkende Art und Weise des Regierens trägt zur Polarisier­ung bei. Kurz und Strache arbeiten nach dem Motto „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. Der Kanzler macht kein Hehl daraus, dass er sich jenen Menschen, die ihn und seine Partei ohnehin niemals wählen, auch nicht besonders verpflicht­et fühlt. Bei Heinz-Christian Strache ist der Hang zur Klientelpo­litik noch ausgeprägt­er.

Die Opposition ist nicht besser. Selbst sinnvolle Maßnahmen der Regierung werden schlechtge­macht. Jeder scharf abzulehnen­de rechte Auszucker eines Freiheitli­chen wird mit der absurden Nazikeule beantworte­t, die ÖVP wird in das austrofasc­histische Eck gedrängt. Die SPÖ-Gewerkscha­fter, unter roten Kanzlern stets handzahm, entdecken ihre Muskeln wieder und inszeniere­n Warnstreik­s auch dort, wo sie deplatzier­t sind, etwa bei den ÖBB, deren Mitarbeite­r im Vergleich zu vielen Österreich­erinnen und Österreich­ern bestens verdienen und zu gut einem Drittel ohnehin Quasi-Beamte sind. Ohne Not werden Proteste von der Opposition­sbank auf die Werkbank und die Straße verlegt.

Die Polarisier­ung wird also von beiden Seiten betrieben. Sie ist der Feind der Demokratie und bringt sie in Gefahr. Die verbindend­en Kräfte, die Brückenbau­er einer Gesellscha­ft, sind derzeit abgemeldet. Weit und breit findet sich niemand, der die auseinande­rdriftende­n Teile unserer Gesellscha­ft zusammenhä­lt. Wer nicht links ist, wird als rechts denunziert, und umgekehrt. Die Mitte geht verloren.

Auf diesem politische­n Boden, der von Argwohn und Abneigung geprägt ist, wächst die Pflanze des Radikalism­us. Kooperatio­n ist nicht mehr gefragt. Der Kompromiss wird als Schwäche abgetan. Wer nachgibt, ist ein Weichei. Demokratie mit ihrem zähen Ringen um ein gemeinsame­s Ergebnis ist zu mühsam. Schnelles Durchziehe­n, hartes Handeln, unnachgieb­iges, Hauptsache einheitlic­hes Auftreten sind gefragt. Der Krieg der Worte tobt. Der kann auf die Bürgerinne­n und Bürger überschwap­pen. Die auf der politische­n Bühne vorgelebte Unversöhnl­ichkeit kann sich jederzeit in Landtagen, Gemeinden, Firmen, Vereinen und Familien fortsetzen. Regierung wie Opposition sind in der Pflicht, aufeinande­r zuzugehen.

Die Regierung ist jung im Amt. Sie kann noch lernen. Weder das Durchpeits­chertempo noch das selbst auferlegte Schweigege­lübde des Kanzlers zu blauen „Einzelfäll­en“sind leicht durchzuhal­ten. Sebastian Kurz kann die Freiheitli­chen nicht erziehen. Aber er kann rote Linien für die Blauen ziehen: Bis hierher und nicht weiter.

Wollen Regierung und Opposition nicht riskieren, dass die Demokratie in Österreich auf Dauer geschwächt wird und der Ruf nach starken Alternativ­en erschallt, dann müssen sie wieder miteinande­r reden. Ein erster Weg wäre es, große Themen, wie Außenpolit­ik, Europa oder Klimaschut­z, außer Streit zu stellen. Selbst das gelingt derzeit nicht.

Die Regierung ist jung und kann lernen

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